Ein lokales Rezept für ein globales Problem

Artikel, 17.03.2015

An der Tagung «Hidden Hunger und Social Business», welche die DEZA am 18. März 2015 in Bern veranstaltet, kommen Fachleute und Unternehmer mit einem gemeinsamen Ziel zusammen: den Hunger mit innovativen Lösungen zu bekämpfen. Einer davon ist Paul Murphy, Geschäftsführer des sozialen Unternehmens VALID Nutrition, das therapeutische Fertignahrung vermarktet. Aufgrund der positiven Erfahrungen in Malawi ist er zum Schluss gekommen, dass lokal angesiedelte Unternehmen wirksamer gegen Mangelernährung vorgehen können als traditionelle Hilfs- und Wohltätigkeitsprogramme.

Zwei Handvoll Erdnüsse
Erdnüsse sind eine wichtige Zutat für die therapeutische Fertignahrung, die VALID Nutrition in Malawi herstellt. © VALID Nutrition

Paul Murphy war er 27 Jahre lang Marketingspezialist und leitender Angestellter beim Lebensmittelriesen Unilever, bevor er zu VALID Nutrition wechselte. In Zusammenarbeit mit Steve Collins, dem Gründer von VALID Nutrition, hat Paul Murphy in den letzten Jahren in Malawi ein vielversprechendes Marktmodell entwickelt und erprobt.

Das Modell beruht auf der lokalen Produktion therapeutischer Fertignahrung. Von Kleinbauern im ländlichen Malawi angebaute Erdnüsse werden in einer Fabrik in der Hauptstadt Lilongwe zu einer nahrhaften Paste verarbeitet. Die Paste wird an Einrichtungen wie UNICEF verkauft, die sie an akut mangelernährte Kinder verteilen. 2014 kam die gebrauchsfertige Nahrung von VALID Nutrition 25ʼ000 Kindern zugute.

Nach Auffassung von VALID Nutrition sind marktorientierte Lösungen, die sowohl dem Angebot als auch der Nachfrage Rechnung tragen, das einzige realistische Mittel, den Hunger nachhaltig zu bekämpfen.

Paul Murphy, eine Vielzahl von Organisationen und Initiativen geht gegen Mangelernährung in der Welt vor. Was macht VALID Nutrition zu einem innovativen Unternehmen?

Wir betrachten mangelernährte Menschen nicht als Opfer, sondern als legitime Kunden, und wir glauben, auch in Anbetracht der Forschung, dass es in der Ernährungsbranche einen wie auch immer gearteten rentablen Markt geben muss, in den Unternehmer investieren können. Das Geschäftsmodell, dass VALID Nutrition 2007 in Malawi für die lokale Herstellung therapeutischer Fertignahrung aufstellte, entstand als Reaktion auf eine bedeutende Veränderung beim Umgang mit schwerer akuter Mangelernährung (SAM). Bis vor einem Jahrzehnt wurden Kinder, die dem Tode nahe waren, zur Behandlung in ein Spital eingewiesen. Mein Kollege Steve Collins erarbeitete gemeinsam mit anderen Fachleuten ein gemeindenahes Versorgungsmodell, das von der Weltgesundheitsorganisation schrittweise als Standard in rund 65 Ländern übernommen wurde. Die Idee war, die Behandlung von den Kliniken in die Gemeinschaften zu verlagern und die Rolle der Mütter als echte Trägerinnen der Gesundheitsfürsorge zu stärken, bei der Prävention wie der Reaktion. Die Behandlung von SAM sollte also nicht länger einer rein angebotsorientierten, sondern einer nachfragegesteuerten Logik folgen.

Genau zu diesem Zeitpunkt erkannte VALID Nutrition eine Marktchance in Malawi...

Wir hätten uns auch in einem anderen Land niederlassen können. Malawi war jedoch eines der Länder, in denen Steve Collins viel Forschung betrieben hatte und die nationalen Behörden eine vielversprechende Reformbereitschaft zeigten. Der entscheidende Punkt war, dass die therapeutische Fertignahrung von Frankreich oder den USA in die bedürftigen Länder geliefert wurde. Wir hielten das nicht für sinnvoll und dachten, es sei besser, ein auf der lokalen Produktion beruhendes Modell zu entwickeln. Dabei motivierten uns die positiven Effekte des gemeindenahen Behandlungsmodells, die wir in Malawi beobachteten. Stark unterernährten Kindern, die im ländlichen Gesundheitszentrumeine Diagnose und eine Wochenration therapeutische Fertignahrung erhielten, ging es innerhalb von sechs Wochen besser. Mit dem allgemeinen Anstieg der Kinder, die sich von der Mangelernährung erholten, kamen auch viele Freunde und Nachbarn zur Untersuchung! Global gesehen wuchs der Gesamtmarkt für therapeutische Fertignahrung in sieben Jahren von 3000 auf derzeit etwa 40ʼ000 Tonnen.

Sie sehen anscheinend ein enormes Geschäftspotenzial in der Produktion von therapeutischer Fertignahrung. Vorhin sprachen Sie von einem «rentablen» Markt und von «Kunden». Sollten Mütter kranker Kinder nach Ihrem Modell für therapeutische Fertignahrung bezahlen müssen?

Nein. Bei akuter Mangelernährung wird therapeutische Fertignahrung unentgeltlich abgegeben. Mit «rentabel» meinen wir, dass die Produktion für lokale Landwirte, Industrieunternehmen und Investoren gewinnbringend sein muss, damit die Verteilung der Hilfsgüter aufrechterhalten werden kann. In Malawi sind wir eine Partnerschaft mit dem nationalen Kleinbauernverband und mit mehreren Verarbeitungsunternehmen eingegangen, um eine stabile Produktionskette aufzubauen. Heute sehen wir unser System als erfolgreich an: 2014 produzierte unsere lokale Niederlassung 3 Millionen Päckchen bzw. 276 Tonnen therapeutische Fertignahrung. Zugleich wissen wir, dass wir mehrere Herausforderungen bewältigen müssen. Ein Problem ist etwa die Qualität der von den örtlichen Landwirten gelieferten Erdnüsse.

Nach dem Internationalen Jahr der bäuerlichen Familienbetriebe 2014 erklärte die UNO 2015 zum Internationalen Jahr der Böden. Inwiefern haben lokale Produzenten eine zentrale Bedeutung für Ihr Geschäftsmodell?

Die meisten Komponenten – ausser Milchpulver, das 25% unseres Produkts ausmacht – werden in Malawi oder seinen Nachbarländern hergestellt. Tausende Kleinbauern tragen zum Joint Venture bei, das wir in Lilongwe aufgebaut haben, und profitieren davon. Nach unseren Berechnungen fliessen beim Import von therapeutischer Fertignahrung jeweils nur etwa 15% des Produktpreises in die lokale Wirtschaft des Landes. Bei unserem Modell sind es dagegen 70%. Um die Produktion noch stärker in den afrikanischen Ländern zu verankern, entwickelt und erprobt ein Forschungs- und Entwicklungsteam von VALID Nutrition andere Rezepturen, für die die örtliche Landwirtschaft bessere Voraussetzungen aufweist. Im Mai 2014 haben wir in der Demokratischen Republik Kongo die klinische Erprobung einer neuen Generation von therapeutischer Fertignahrung aus Soja, Mais und Sorghumhirse abgeschlossen, die ohne Milchanteil auskommt. Wie die Ergebnisse zeigen, ist das neue Präparat bei allen Kindern im Alter von mehr als 24 Monaten, die an schwerer akuter Mangelernährung leiden, gleich wirksam wie die bewährte Rezeptur auf Milch- und Erdnussbasis.

Wird sich die therapeutische Fertignahrung aus lokalen Erzeugnissen als DIE Lösung erweisen?

Es gibt keine einzelne Lösung, aber es gibt auf jeden Fall bessere Lösungen als die derzeit verfügbaren. Es ist eine Tatsache, dass mit Rezepturen, die weniger auf importierte Zutaten angewiesen sind, lokal angebaute Kulturen besser genutzt und die Produktionskosten gesenkt werden. Daraus könnten sich globale Einsparungen in Höhe von mehreren Millionen Dollar ergeben. Somit könnten Hunderttausende weitere Fälle von schwerer akuter Mangelernährung mit demselben Budget behandelt werden. Generell müssen Kleinbauern als zentrale Akteure im Kampf gegen Mangelernährung angesehen werden. Das inklusive und die Eigenständigkeit stärkende Marktmodell, das wir für die Produktion von therapeutischer Fertignahrung konzipiert haben, kann Millionen von lokalen Landwirten eine bessere Existenzgrundlage ermöglichen.

Die Landwirte müssen aber auch ihre eigenen Familien ernähren und nicht nur Rohstoffe für therapeutische Fertignahrung liefern.

Natürlich. Wir setzen uns nicht nur für eine lokale Produktionskette für therapeutische Fertignahrung ein, sondern auch für eine stärkere Förderung der lokalen Erzeugung von Nahrungsmitteln wie Hülsenfrüchten, die sowohl umweltfreundlich als auch ernährungsphysiologisch vorteilhaft sind. Das umfassendere Ziel sollte darin bestehen, das marktorientierte Konzept systematisch anzuwenden, um chronische Mangelernährung zu verhüten und eine nachhaltige Grundversorgung mit Nahrungsmitteln für alle zu gewährleisten. Dahinter steht folgender Gedanke: Ja, die Ärmsten werden immer Subventionen für den «Kauf» benötigen, aber viele andere können bezahlen, wenn wir das richtige Produkt zu erschwinglichen Preisen anbieten. Dazu braucht es neben Geberorganisationen, gemeinnützigen Stiftungen oder den Abteilungen für soziale Verantwortung der Unternehmen auch private Investoren, die sich engagieren. Diese gesamte Marktseite ist derzeit zu wenig aktiv. Doch sollte niemand vor rentablen Geschäften zurückscheuen, wenn sie einer guten Sache wie der Deckung des Nahrungsmittelbedarfs für alle dienen.

Zwei Milliarden Unterernährte

Gemeinsame Veranstalter der öffentlichen Diskussion am 18. März 2015 sind das Netzwerk Arbeit und Einkommen und das Globalprogramm Ernährungssicherheit der DEZA. Die DEZA trägt zur Minderung der Armut und zur Verbesserung der Ernährungssicherheit bei, indem sie Landwirte bei der nachhaltigen Produktion gesunder Nahrungsmittel unterstützt, die für alle zugänglich sind, den Landwirten ein höheres Einkommen verschaffen und die Umwelt schützen. Weltweit leiden schätzungsweise zwei Milliarden Menschen an chronischer Mangelernährung. Davon erfüllen bis zu 25 Millionen Kinder die Kriterien für eine schwere akute Mangelernährung. Nahrungsmittelhilfe ist der erste entscheidende Schritt zur Rettung von Menschenleben und zur Linderung des Leidens in akuten und chronischen Krisensituationen. Hier kann therapeutische Fertignahrung eine wichtige Rolle spielen. Zur Umsetzung langfristiger Lösungen und zur Verhütung von Nahrungsmittelkrisen bedarf es jedoch eines funktionsfähigen landwirtschaftlichen Produktionssystems. Im Einklang mit ihrer Politik zur Förderung der örtlichen Landwirtschaft unterstützt die DEZA die Verbesserung des nationalen und internationalen Regulierungsrahmens im Bereich Nahrungsmittelsicherheit und Ernährung.

Engagement der DEZA im Bereich Landwirtschaft und Ernährungssicherheit