Post-2015: Die Schweiz ist Brückenbauerin und hat konkrete Zielvorschläge

Artikel, 25.09.2014

2015 wird die Laufzeit der Millenniumsentwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) der UNO enden. Zusammen mit der Staatengemeinschaft arbeitet die Schweiz an neuen globalen Entwicklungszielen. Botschafter Michael Gerber ist Sonderbeauftragter für globale nachhaltige Entwicklung und vertritt die Schweiz in den internationalen Verhandlungen zur sogenannten Agenda post-2015. Im Interview blickt er auf die MDGs zurück, erläutert die Schweizer Position und nennt Veränderungen bei den neuen globalen Zielen für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs).

Botschafter Michael Gerber. © EDA
«Die Schweiz ist seit Beginn der Ausarbeitung einer neuen globalen Agenda für eine Nachhaltige Entwicklung post-2015 sehr aktiv, unter anderem mit konkreten Vorschlägen für neue Ziele.»: Botschafter Michael Gerber. © EDA

Herr Gerber, weshalb braucht es eine Agenda für eine nachhaltige Entwicklung post-2015?
Die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) haben gezeigt, dass eine globale Agenda erfolgreich sein kann. Durch die MDGs wurden konkrete Resultate erreicht. Zum Beispiel konnte der Anteil der Menschen, die pro Tag mit weniger als 1,25 Dollar leben müssen, also extrem arm sind, im Vergleich zu 1990 halbiert werden. Für 2,3 Milliarden Menschen wurde ein besserer Zugang zu Trinkwasser geschaffen. Weitere Erfolge sind die Verbesserung der Lebensbedingungen für mehr als 200 Millionen Slumbewohner oder die Geschlechterparität bei der Grundschuldbildung in Entwicklungsländern. Mittlerweile werden 90 Prozent aller Kinder in den Entwicklungsländern eingeschult.

Trotzdem reichen die Millenniumsentwicklungsziele nicht aus, um die globalen Herausforderungen der heutigen Zeit umfassend zu bewältigen. Die MDGs sind hauptsächlich auf die Entwicklungsländer des Südens ausgerichtet. Die Probleme der heutigen Zeit, beispielsweise Armut oder Umweltprobleme, sind jedoch universell, betreffen also nicht nur die Entwicklungsländer. Die Folgeagenda muss alle Dimensionen für eine nachhaltige Entwicklung berücksichtigen, also nicht nur die soziale Dimension, sondern auch die ökonomische und die ökologische.

Wo steht die Schweiz in diesem Prozess?
Die Schweiz ist seit Beginn der Ausarbeitung einer neuen globalen Agenda sehr aktiv, unter anderem mit konkreten Vorschlägen für neue Ziele. Seit 2012 gibt es eine interdepartementale Task Force und meine Funktion als Sonderbeauftragter. Ende 2012 begann der nationale Prozess der Ausarbeitung der Schweizer Position zur Agenda für eine Nachhaltige Entwicklung post-2015. Im Juni 2014 wurde sie vom Bundesrat gutgeheissen.

Auch international spielt die Schweiz eine wichtige Rolle. In 11 Themenbereichen führte die UNO Konsultationen auf globaler Ebene durch. Die Schweiz koordinierte zusammen mit anderen Ländern zwei dieser Konsultationen, namentlich zu Wasser und zu Bevölkerungsdynamik. In der offenen Arbeitsgruppe zu den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs), hatte die Schweiz einen Sitz, den sie sich mit Deutschland und Frankreich teilte. 70 Staaten arbeiteten in dieser Gruppe. Im Juli dieses Jahres veröffentlichte sie einen Bericht mit 17 Zielen für die neue globale Agenda nach 2015. Die Schweiz hat ihre Kernanliegen und -themen in diesem Bericht verankern können. Sie bleibt weiterhin aktiv, insbesondere in den zwischenstaatlichen Verhandlungen im Rahmen der UNO im nächsten Jahr.

Welches sind die vorrangigen Ziele der Schweiz für eine Agenda post-2015?
Der Fokus der Schweiz liegt auf vier Themen, die sie als Einzelziele formuliert sehen möchte – das sind Wasser Gesundheit, Geschlechtergleichstellung sowie Frieden und inklusive Gesellschaften – sowie auf drei Themen, die in alle relevanten Zielbereichen integriert werden sollen: Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum, Reduktion von Katastrophenrisiken, Migration und Entwicklung.

Nehmen wir das Beispiel Wasser: Diesbezüglich gab es in den MDGs nur ein Unterziel zum Thema Trinkwasser und sanitäre Anlagen. Die Schweiz setzt sich bei der Folgeagenda für ein umfassendes Wasserziel ein, das alle wichtigen Aspekte enthält, zum Beispiel Wassermanagement, Wasserentsorgung und Wasserqualität, die Verhinderung von wasserbezogenen Katastrophen sowie die internationale Zusammenarbeit bezüglich grenzüberschreitender Gewässer. Als erstes Land lieferte die Schweiz zum Thema Wasser einen konkreten Zielvorschlag, der inzwischen von vielen anderen Ländern unterstützt wird.

Wie definiert die Schweiz ihre Rolle in den internationalen Verhandlungen für eine Agenda post-2015? Welche Stärken bringt sie ein?
Die Schweiz ist eine Brückenbauerin. Diese Rolle hat sie zum Beispiel in den Verhandlungen zu den Zielen im Bereich Frieden und inklusive Gesellschaften wahrgenommen. Seitens einzelner Länder kamen grosse Einwände; die Schweiz setzte sich dafür ein, in diesen Bereichen Ziele überhaupt realistisch zu machen.

Thematisch gut gerüstet ist die Schweiz bei ihren Schwerpunktthemen, aber auch in vielen anderen Bereichen. So hat sie in 16 verschiedenen Themenfeldern Positionen entwickelt, die sie aktiv in die Verhandlungen einbringt. Das heisst die Schweiz steuert nicht nur Prozesse, sondern sie trägt auch inhaltlich viel zu den internationalen Verhandlungen bei.

Wie hat sich die Position der Schweiz entwickelt?
Im Herbst 2012 begann die Schweiz mit einem breit geführten und offenen Konsultationsprozess. Das EDA lud Vertreter der Zivilgesellschaft, des Privatsektors und von Forschungsinstitutionen ein. Aber nicht nur Spezialistinnen und Spezialisten konnten sich an der Formulierung der Schweizer Position zur Agenda für eine Nachhaltige Entwicklung post-2015 beteiligen, sondern auch Politikerinnen und Politiker und Bürgerinnen und Bürger. Es gab Veranstaltungen, an denen sich Privatpersonen, beispielsweise Studenten, geäussert haben. Und über die Web-Plattform «Agenda post-2015» (siehe unter Weiterführende Informationen) wurden Ideen aus der Bevölkerung entgegengenommen.

Die interdepartementale Task Force hat einen Entwurf der Schweizer Position formuliert und diesen im Juni 2013 erstmals dem Bundesrat vorgelegt. Das Papier wurde gutgeheissen und ging ein Jahr später, nach Abschluss der nationalen Konsultationen und in weiterentwickelter Form, nochmals an den Bundesrat, der die Position am 25. Juni 2014 verabschiedet hat.

Gibt es in der Schweizer Position für eine nachhaltige Entwicklungsagenda im Vergleich zur Position zu den Millenniumsentwicklungszielen eine signifikante Veränderung?
Ja, es gibt signifikante Veränderungen: die Agenda ist universell gültig, sie ist breiter und partizipativer aufgezogen worden und beinhaltet mehr Themen als die MDGs. Sie berücksichtigt die Erfahrungen, die mit den MDGs gemacht worden sind.

Wie werden die Millenniumsentwicklungsziele im Rückblick beurteilt, auch speziell aus Schweizer Sicht?
Ein Vorteil der MDGs war, dass sie aus nur acht Zielen bestanden. Sie waren überschaubar, verständlich und konnten international gut kommuniziert werden. Mit den MDGs konnten die Menschen weltweit mobilisiert werden. Sogar in ruralen Gebieten von Entwicklungsländern wissen die Menschen teilweise, was die MDGs sind.

Die neue Zielagenda soll mehr Themen und Ziele enthalten, also auch solche, die in den MDGs fehlten, und sie wird in der Umsetzung komplexer sein. Nicht nur die Entwicklungsakteure werden an der Ausführung beteiligt sein, sondern auch Vertreter aus dem Privatsektor und aus der Forschung. Neben der neuen Entwicklungsagenda wird auch die internationale Partnerschaft umfassender.

Welches sind die nächsten Schritte?
Die Agenda für eine Nachhaltige Entwicklung post-2015 wird eines der Hauptthemen sein zur Eröffnung der 69. UNO-Generalversammlung vom 22.–26.9. und in der Generaldebatte. Im November 2014 wird UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon einen Bericht verfassen und darin auf die Zielvorschläge der offenen Arbeitsgruppe und die Resultate aus den globalen Konsultationen Bezug nehmen.

Anschliessend stehen bis im Sommer 2015 zwischenstaatliche Verhandlungen an, in denen die Post-2015-Agenda verhandelt wird. Unter anderem werden Themen wie die Umsetzung, Überprüfung und Finanzierung werden auf dem Programm stehen. Im Juli 2015 findet in Addis Abeba eine Konferenz zur Finanzierung der Agenda für eine Nachhaltige Entwicklung post-2015 statt, an der auch die Schweiz teilnimmt.

Post-2015 an der 69. UNO-Generalversammlung

Botschafter Michael Gerber nimmt in der Delegation von Bundespräsident Didier Burkhalter an der hochrangigen Woche zur Eröffnung der 69. Uno-Generalversammlung vom 22.–26.9.2014 in New York teil. Die neue Agenda für eine Nachhaltige Entwicklung post-2015 wird ein Thema vieler Veranstaltungen und Diskussionen sein. Am 25.9. leitet die Schweiz zusammen mit Peru, Tadschikistan und Thailand einen Anlass zum Thema Wasser und Reduzierung des Katastrophenrisikos. Ausserdem wird Bundespräsident Didier Burkhalter im Zusammenhang mit der Post-2015 Agenda mit dem ghanaischen Präsidenten einer Veranstaltung zur Überwindung von HIV/AIDS bis 2030 vorsitzen.

Dossier UNO-Generalversammlung 2014
Schweizer Position zur Agenda für eine Nachhaltige Entwicklung post-2015