Insekten – wichtige Akteure für die Nahrungsmittelsicherheit

Artikel, 16.10.2014

Das International Centre for Insect Physiology and Ecology (ICIPE, Internationales Zentrum für Physiologie und Ökologie der Insekten) mit Sitz in Kenia liefert Produkte und Technologien, die zur Nahrungsmittel- und Ernährungssicherheit für Bauern und Konsumenten in Afrika beitragen. Die DEZA unterstützt das ICIPE seit fast 20 Jahren. Interview mit Segenet Kelemu,  Generaldirektorin des ICIPE, anlässlich  des Welternährungstags.

Eine afrikanische Biene saugt Nektar aus einer Blüte und nimmt dabei Pollen auf
Bienen bestäuben rund 70% unserer Nahrungs- und Futtermittelpflanzen. © Wikimedia Commons/Sajjad Fazel

Inwiefern trägt die wissenschaftliche Erforschung von Insekten zur Nahrungsmittelsicherheit bei? Diese Frage ist eines der Hauptthemen, mit denen sich das International Centre for Insect Physiology and Ecology (ICIPE, Internationales Zentrum für Physiologie und Ökologie der Insekten) in Nairobi, Kenia, befasst. Dieses einzigartige Forschungszentrum legt den Schwerpunkt seiner Tätigkeit im Bereich Entwicklung und Armutsbekämpfung sowohl auf Insekten, die für den Menschen schädlich sind, als auch auf solche, die ihm nützen. Die vier Hauptforschungsbereiche sind die Gesundheit von Mensch, Pflanze, Tier und Umwelt, wobei Insekten der gemeinsame Faktor sind. Überdies verfügt das Zentrum über ein bedeutendes, alle vier Themenbereiche umfassendes Programm zum Aufbau von Kapazitäten.

Die DEZA unterstützt die Arbeit des ICIPE seit 1996 und hat für den Zeitraum 2014–2016 rund 10 Millionen CHF  für das Zentrum bereitgestellt. Aus Anlass des Welternährungstags am 16. Oktober beantwortet Segenet Kelemu, Generaldirektorin des ICIPE, Fragen zur Wissenschaft als solche sowie zum Forschungsbereich Insekten und Nahrungsmittelsicherheit.

Wie wichtig sind Insekten für die Nahrungsmittelsicherheit?

Insekten spielen in unseren Ökosystemen eine zentrale Rolle. Wir kennen über 1,5 Millionen Insektenarten. Ihre Rolle bei der Nahrungsmittelsicherheit lässt sich am Beispiel der Bienen veranschaulichen: Diese bestäuben rund 70% der  Nahrungs- und Futtermittelpflanzen. Von den Nahrungsmitteln, die wir geniessen und auf die wir angewiesen sind, bliebe ohne die «Befruchtungsdienste» der Insekten nicht viel übrig, wobei die Bienen ausserdem  Honig, Wachs und andere Produkte liefern. Würden Bienen und andere Bestäuber verschwinden, wären unsere Nahrungsmittelressourcen ernsthaft gefährdet. Einige Insektenarten sind Räuber oder Parasiten; sie ernähren sich von anderen Insekten, die schädlich für Feldfrüchte sind. Raubinsekten sind ein wichtiges natürliches Mittel, um Schädlingspopulationen – Insekten oder Unkräuter – möglichst gering zu halten. Andere Insekten wiederum dienen Menschen und auch vielen Tieren als Nahrung sowie als Fischköder und sind eine gute Proteinquelle. Insekten spielen auch bei der «Abfallbeseitigung» eine wichtige Rolle. Ohne Insekten, die Tierkadaver und abgestorbene Pflanzen zerlegen und verwerten, würden sich diese in unserer Umwelt anhäufen. Allerdings übertragen einige Insekten auch Krankheiten auf Pflanzen, Tiere und Menschen. Insekten spielen somit direkt und indirekt eine absolut wichtige Rolle für die Gewährleistung der Nahrungsmittelsicherheit.

Wie trägt die Arbeit des ICIPE zum Wandel in der Landwirtschaft bei, in Afrika und anderswo?

Das ICIPE ist ein einzigartiges Zentrum, das sich mit wesentlichen Themen für Menschen mit geringen Ressourcen in Afrika befasst. Im Bereich Tiergesundheit beispielsweise beeinträchtigt das massive Vorkommen von Tsetse-Fliegen die Produktivität des Viehbestands in Afrika südlich der Sahara. Vor einigen Jahren bemerkten Wissenschaftler des ICIPE, dass Wasserböcke ohne Probleme in allen von Tsetse-Fliegen befallenen Gebieten lebten. Unsere Forschung ergab, dass diese Wildtiere eine chemische Substanz absondern, die Tsetse-Fliegen fernhält. Das ICIPE nahm chemische Analysen dieser Substanz vor und integrierte sie in Halsbänder für das Vieh. Ergänzt wird diese Technologie durch ein vom ICIPE entwickeltes Fallensystem, das Tsetse-Fliegen anlockt. Die Wirksamkeit dieses Produkts ist erwiesen, aber es fehlen noch die Mittel, um die Millionen benötigter Halsbänder herzustellen. Wir arbeiten mit Partnern zusammen, um diese Technologie zu verbreiten. Schwerpunkt eines weiteren Programms ist die Bienengesundheit. Es gibt nämlich Hinweise darauf, dass afrikanische Bienen über eine besondere genetische Ausstattung verfügen, die sie widerstandsfähiger oder toleranter gegenüber Krankheiten und Schädlingen macht. Wenn wir unser Wissen über afrikanische Bienen und ihre Genetik verbessern, finden wir vielleicht Lösungen für die Gesundheitsprobleme nordamerikanischer und europäischer Bienen.

Das Zentrum erforscht auch parasitäre Unkräuter, welche die Nahrungsmittelsicherheit beeinträchtigen, richtig?

Ja, zum Beispiel haben wir eine niederschwellige Technologie für Feldfrüchte entwickelt, mit der das zerstörerische parasitäre Unkraut Striga ausgerottet werden kann. Die tropische Futter-Hülsenfrucht Desmodium besorgt diese Arbeit, wenn sie zusammen mit Nahrungspflanzen wie Mais, Sorghum, Reis, Hirse usw. ausgesät wird, die der Striga als Wirt dienen. Desmodium sondert chemische Substanzen ab, die das Keimen der winzigen Striga-Samen stimulieren, jedoch verhindern, dass sie sich auf der Wirtspflanze festsetzen. Die Hülsenfrucht verbessert überdies den Nährstoffgehalt des Bodens, verhindert dessen Austrocknen, verdrängt andere Unkräuter, hält Schädlinge wie Stengelbohrer in Grenzen und kann an das Vieh verfüttert werden. Es ist eine grossartige Technologie mit einer ganzen Reihe von Vorteilen. Vor Kurzem sind wir eine Partnerschaft mit einer privaten Saatgutfirma eingegangen, um in grossem Masse Desmodium-Samen zu produzieren, damit wir diese vielen Ländern und Bauern zur Verfügung stellen können. Das ICIPE hat ausserdem eine Reihe von umweltfreundlichen Biopestiziden entwickelt, die jetzt auf dem Markt sind. Ferner haben wir ein erfolgreiches Programm zu Fruchtfliegen, die eine ernstliche Bedrohung darstellen. Ein Erfolg ist auch unser integriertes Vektormanagementprogramm zur Bekämpfung der Malaria. Das sind nur einige wenige Beispiele.

Nahrungsmittelsicherheit schliesst auch die wirtschaftliche Entwicklung der ländlichen Bevölkerung ein. Können Sie uns Beispiele entsprechender Projekte nennen?

Der potenzielle Nischenmarkt für afrikanische Seide ist beispielsweise für Uganda, Kenia und Äthiopien attraktiv; die Bauern können damit interessante Zusatzeinkünfte erzielen. Das ICIPE stellt den Seidenraupenzüchtern die komplette Technologie zur Verfügung: Seidenraupeneier, Maulbeerbaumsetzlinge und sonstiges Know-how. Auch Honig und Bienenwachs sind profitable Erwerbszweige. Das ICIPE gestaltet Bienenstöcke und hilft den Imkern, die Qualität ihres Honigs zu überwachen. Dieser wird sogar in die Schweiz exportiert! Vor zwei Jahren hat er in Deutschland einen Preis erhalten. Unser Zentrum hat überdies Völker von stachellosen Bienen domestiziert, für Bauern, die an der Produktion von qualitativ hochwertigem medizinischem Honig interessiert sind.

Vor Kurzem haben wir ein Projekt zu Insekten als Nahrungs- und Futtermittel lanciert. Das ICIPE verfügt über mehr als 40 Jahre Erfahrung in der Massenaufzucht von Insekten für Forschungszwecke. Wir beabsichtigen, dieses Know-how für die Massenaufzucht von Insekten als Nahrungsmittel und als Tierfutter – für Hühner, Fische usw. – zu nutzen, was eine Einkommensquelle ergäbe. In einer Reihe von Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika dienen Insekten seit jeher als Nahrung; sie sind billig und eine hochwertige Proteinquelle. In einigen afrikanischen Ländern ist es z.B.vorwiegend eine Aufgabe der Frauen und Kinder, wilde Insekten für den Verzehr zu Hause zu sammeln. In Asien, insbesondere in Thailand, ist die Produktion von Insekten als Nahrungsmittel weit verbreitet, und wir können daraus lernen. Ich möchte betonen, wie wichtig der individuelle und der institutionelle Kapazitätsaufbau bei der Entwicklung eines Landes sind. Entwicklung heisst Kapazität.

Sie sind die erste Frau in der Funktion der Generaldirektorin des ICIPE. Wann begannen Sie, sich für Naturwissenschaften zu interessieren?

Ich erinnere mich gut an einen Biologiekurs an der Highschool. Es ging um die Entdeckung des Penizillins. Für mich war das ein Wendepunkt. Ich dachte an die Leute in meinem Dorf, deren Leben durch Penizillinspritzen gerettet wurde. Ebenfalls zu jener Zeit realisierte ich, wie die Wissenschaft Lösungen für Probleme und Zwänge in unserem täglichen Leben bringen kann. Als junges Mädchen in meinem Dorf erlebte ich überdies hautnah die Katastrophe einer Invasion von Eulenfalterraupen und der durch sie verursachten Ernteausfälle mit. Mein Wunsch, eine landwirtschaftliche Hochschule zu besuchen, wurde von meinem Vater nicht unterstützt. Er fragte mich geringschätzig: «Brauchst Du wirklich einen Universitätsabschluss, um Bäuerin zu werden?» Aber natürlich änderte er seine Meinung lange vor seinem Tod.

Welche Ratschläge würden Sie angesichts ihrer Erfahrungen einer jungen Wissenschaftlerin aus Äthiopien oder einem anderen afrikanischen Land geben?

Lass niemand anderen bestimmen, was du werden sollst, folge deiner Leidenschaft, sei brillant und hartnäckig! Wissenschaft ist anspruchsvoll, aber auch sehr befriedigend, denn sie ermöglicht dir ein grosses Ziel in deinem Leben, vor allem wenn du dein Wissen anwendest, um das Leben von Menschen zu verbessern.

 

Eine der 100 einflussreichsten Frauen Afrikas

Segenet Kelemu in einem Labor
Segenet Kelemu wurde 2013 zur Generaldirektorin des International Centre for Insect Physiology and Ecology ernannt. © Julian Dufort

Segenet Kelemu war die erste Frau aus ihrer Region Äthiopiens, die an der Universität von Addis Abeba studierte. In den frühen 1980er-Jahren gewann sie ein Stipendium für ein Studium in den Vereinigten Staaten. Dort erlangte sie die Titel  MSc und PhD; in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren führte sie postdoktorale Forschung in Molekularbiologie durch. Danach wurde sie vom International Center for Tropical Agriculture in Cali, Kolumbien, eingestellt und arbeitete dort 15 Jahre lang als Wissenschaftlerin und später als Abteilungsleiterin.

2006 kam es zu einem wichtigen Wendepunkt in ihrem Leben: In Beijing erhielt sie einen renommierten Preis für ihren Beitrag zum sozialen und wirtschaftlichen Wachstum in China. Sie fand es ein wenig peinlich, dass sie die einzige Afrikanerin auf der Tribüne war – ihre Arbeit bewirkte etwas in China, aber was war mit Afrika? Auf der Rückreise wurde ihr klar, dass sie ihre Arbeit in Kolumbien aufgeben und nach Afrika zurückkehren musste. «Ich habe meine Arbeit und mein Leben in Kolumbien genossen, aber ich hatte immer das Gefühl, etwas fehle», erklärt sie heute.

Kenia ist ihre Basis, und ihre erste Stelle in Afrika nach ihrer Rückkehr war die der Leiterin des biowissenschaftlichen Hubs von Ost- und Zentralafrika am International Livestock Research Institute in Nairobi. Zur Generaldirektorin des International Centre for Insect Physiology and Ecology wurde sie 2013 ernannt. Das ICIPE beschäftigt 480 Vollzeit-Mitarbeitende, mehrere Personen im Auftragsverhältnis und 70–100 graduierte Studierende.

Segenet Kelemu hat zahlreiche Preise erhalten. Sie ist eine der fünf Preisträgerinnen der 2014 verliehenen L’Oréal-UNESCO-Preise «For Women in Science». 2013 gehörte sie zu den gewählten Fellows der African Academy of Sciences. In der Ausgabe von «Forbes Africa» vom Mai 2014 wird sie unter den 100 einflussreichsten Frauen Afrikas aufgeführt.