Frauen auf der Flucht sind besonders verletzlich

Artikel, 06.03.2018

Weltweit befinden sich über 30 Millionen Frauen und Mädchen auf der Flucht. Anlässlich des internationalen Frauentages vom 8. März erklärt Gender-Expertin Ursula Keller, welchen spezifischen Risiken weibliche Flüchtlinge ausgesetzt sind und was die DEZA für sie tut.

Eine Frau in einem Flüchtlingslager beim Aufhängen der Wäsche zwischen zwei Zelten. Daneben stehen zwei Kinder. Am Boden liegt Schnee.
Wie diese aus Syrien stammende Mutter mit ihren Kindern haben Frauen auf der Flucht besonders grosse Herausforderungen zu bewältigen. © DEZA

Ursula Keller, anlässlich des internationalen Frauentages vom 8. März 2018 moderieren Sie einen Anlass unter dem Titel «Frauen auf der Flucht» (siehe Link am Ende des Beitrags). Mit welchen spezifischen Gefahren und Herausforderungen sind Frauen auf der Flucht konfrontiert?

Wer aufgrund von Krieg, Gewalt, politischer Unterdrückung oder Naturkatastrophen Haus und Heimat verlassen muss, dem wird buchstäblich der Boden unter den Füssen weggezogen – unabhängig vom Geschlecht. Darüber hinaus sind Frauen auf der Flucht aber besonders verletzlich: bezüglich ihrer Sicherheit, bezüglich der Sicherstellung ihrer Grundbedürfnisse und bezüglich der Ökonomie. Frauen werden gerade in Kriegssituationen oft Opfer von sexueller Gewalt. Aber auch die häusliche Gewalt nimmt zu, etwa weil die Männer ihre Rolle als Beschützer und Ernährer der Familie nicht mehr wahrnehmen können und daher frustriert sind. Dazu kommen spezifische Risiken in den Flüchtlingslagern, beispielsweise fehlende Beleuchtung, eingeschränkte Mobilität und die mangelnde Privatsphäre sanitärer Anlagen. In afrikanischen Lagern müssen Frauen und Kinder zudem oft weite Fussmärsche unternehmen, um Feuerholz zu sammeln. Dabei setzen sie sich neuen Gefahren aus.

Sie haben die Grundbedürfnisse erwähnt. Inwiefern sind weibliche Flüchtlinge diesbezüglich diskriminiert?

In einem unsicheren Umfeld ist es für sie noch schwieriger als sonst, den Zugang zu Grundbedürfnissen wie Nahrung, Gesundheit und Bildung sicherzustellen. Oft erhalten beispielsweise Schwangere und Mütter mit Kleinkindern keine ausreichende medizinische Versorgung – daher die hohe Müttersterblichkeit in Flüchtlingssituationen. Auch die Möglichkeit, zur Schule zu gehen ist oft in Frage gestellt. Dies etwa weil die Schulen in den Lagern oder Gastländern keine geschlechtergetrennten Toiletten haben. Daher wollen manche Eltern ihre Töchter ab einem gewissen Alter wegen sozialer Normen oder aus Sicherheitsgründen nicht mehr hinschicken. Das hat gravierende Auswirkungen, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Dauer einer Flucht 17 Jahre beträgt – beinahe eine Generation!

Und welche Folgen hat die Flucht für Frauen in ökonomischer Hinsicht?

Ganz unterschiedliche. Im Umfeld der Syrien-Krise zum Beispiel beobachten wir eine deutliche Zunahme von Früh- und Zwangsheiraten aus ökonomischen Gründen. Dabei werden junge Mädchen an ältere Männer verheiratet. Dazu kommen Gefahren wie Prostitution und Menschenhandel, denen primär junge Frauen ausgesetzt sind. Oft übernehmen Frauen in Fluchtsituationen auch neue Rollen. Daraus entsteht eine Doppel- und Dreifachbelastung: Wenn die Männer fehlen, müssen die Frauen neben ihren traditionellen Aufgaben wie Kindererziehung und Haushalt auch das Einkommen generieren. Handkehrum kann das aber auch eine Chance für sie sein, ihren Status und ihre Möglichkeiten zu stärken.

Ursula Keller, Expertin für Genderfragen bei der DEZA.
Ursula Keller, Expertin für Genderfragen bei der DEZA. © DEZA

Frauen auf der Flucht sind also in vieler Hinsicht gefordert. Welche Unterstützung leistet die DEZA?

Im Bereich der humanitären Soforthilfe sind wir zum Beispiel in Bangladesch engagiert, das seit September 2017 über 680'000 Männer, Frauen und Kinder aus dem Nachbarland Myanmar aufgenommen hat. Die DEZA setzt sich dafür ein, dass die Frauen in den Lagern ein sicheres Umfeld finden – dank genügend Beleuchtung sowie geschlechtergetrennten Toiletten- und Duschbereichen. Zudem wird darauf geachtet, dass sie bei der Verteilung von Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe gebührend berücksichtigt werden. Wir unterstützen auch psychosoziale Angebote wie Beratung für traumatisierte Frauen. Denn viele von ihnen haben Furchtbares erlebt: Vertreibung, sexuelle Gewalt oder den Verlust von Angehörigen.

Wie sieht es mit der längerfristigen Unterstützung aus?

Diesem Aspekt räumen wir ebenfalls grosses Gewicht ein. In Flüchtlingslagern, die schon länger bestehen, wie etwa in Kenia, schulen wir Frauen Kenntnisse, damit sie etwas Geld verdienen können. Sie lernen zum Beispiel, Computer, Handys oder Autos zu reparieren, oder sie können Näh- und Schneiderkurse belegen. Wichtig ist, dass es uns gelingt, die Frauen aus ihrer Opferrolle herauszuholen und ihnen die Verantwortung für ihr Leben zurückzugeben. Zu erwähnen ist auch das Engagement der Schweiz auf internationaler Ebene zum Schutz von Flüchtlingen und Migranten, aktuell etwa bei der Erarbeitung des Globalen Pakts zu Migration und für Flüchtlinge. Auch dort gilt den Anliegen von Frauen ein spezifisches Augenmerk.

Was bezweckt die DEZA mit ihrem Engagement unter dem Strich?

Zunächst geht es ganz einfach darum, Leben zu retten und den betroffenen Frauen Sicherheit zu geben. Und dann bieten wir Tausenden von Frauen in einer besonders schwierigen Phase soziale und wirtschaftliche Perspektiven, die ihnen ermöglichen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen – sei es im Gastland oder nach der Rückkehr in ihre Heimat. Dazu gehört, dass sie sich und ihre Kinder versorgen und die Kinder zur Schule gehen können. Wir müssen unbedingt verhindern, dass eine ganze Generation von Flüchtlingskindern am Ende ohne Bildung dasteht – denn sie sind am meisten gefährdet, die Gewalt dereinst weiterzutragen.