«Die Kontakte, die wir vor Ort knüpfen, bleiben auch nach der Rückkehr in die Schweiz bestehen»

Bei der Explosion in Beirut wurden zahlreiche Spitäler beschädigt. Jean-Daniel Junod, Anästhesiepfleger am Universitätsspital Genf, war für das «Mother and Child»-Modul in Beirut im Einsatz. Dieses Team setzt sich aus Expertinnen und Experten des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe zusammen. Seine Stärke liegt laut Jean-Daniel Junod in der engen Zusammenarbeit mit dem lokalen Personal.

28.08.2020
 Jean-Daniel Junod, Expert des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe, steht vor einem Flugzeug, bereit für die Abreise nach Beirut.

Um im Bereich Gesundheit rasch Unterstützung zu leisten, hat die Humanitäre Hilfe des Bundes mehrere Soforthilfe-Teams geschickt. Unter anderem das sogenannte «Mother and Child»-Modul, zu welchem Jean-Daniel Junod gehört. © EDA

Das «Mother and Child»-Modul wurde nach dem Erdbeben in Haiti im Jahr 2010 entwickelt und kam unter anderem nach dem Erdbeben 2015 in Nepal zum Einsatz. Das Modul besteht aus einem Team von Kinderärzten, Anästhesisten, Geburtshelfern und Gynäkologen, sowie Hebammen und Pflegefachpersonen. Die Expertinnen und Experten führen chirurgische Eingriffe bei Kindern durch und unterstützt Frauen bei der Entbindung. Jean-Daniel Junod, wie funktioniert das «Mother and Child»-Modul konkret?

Jean-Daniel Junod: Bei diesem Konzept geht es um viel mehr als um die Erfüllung unmittelbarer Gesundheitsbedürfnisse. Wir sind zwar in kürzester Zeit im Katastrophengebiet und können Patientinnen und Patienten sehr rasch behandeln, aber wir haben natürlich auch ehrgeizigere Ziele: Wir wollen auch auf die Institutionen Einfluss nehmen. Wir verfügen über ein umfassendes medizinisches Team, das rasch mobilisiert werden kann. Unsere Ausrüstung kann per Flugzeug und Auto transportiert werden. Unser Ziel ist es, geschwächte Institutionen zu unterstützen, damit sie auch während der Krise funktionieren. Dazu arbeiten wir natürlich eng mit unseren Kolleginnen und Kollegen vor Ort zusammen.

Die Hauptsorge unseres Teams gilt Müttern und Kindern. Diese sind in Krisenzeiten besonders gefährdet und kommen oft zu kurz, weil zu ihrer Unterstützung besondere Fähigkeiten erforderlich sind, aber auch aus kulturellen Gründen.

Warum haben Sie die Spitäler Saint George und Karantina als Standorte für das «Mother and Child»-Team gewählt?

Nach einem Besuch der Spitäler im betroffenen Sektor haben wir zwei ausgewählt: das Karantina-Spital und das Saint George Hospital. Wir wollten unser Engagement auf die tatsächlichen Bedürfnisse ausrichten und diejenigen Bevölkerungsgruppen erreichen, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind, also Mütter und Kinder. Zudem wollten wir sicherstellen, dass unser Projekt realistisch ist und erfolgreich durchgeführt werden kann. Das Karantina-Spital ist ein öffentliches Krankenhaus, das arme Menschen behandelt. Es wurde sehr stark beschädigt, während das Saint George Hospital den Betrieb mehr oder weniger sofort wieder aufnehmen konnte. Wir haben unsere Massnahmen daher auf diese beiden Spitäler konzentriert, zumal wir gemerkt haben, dass sie schon vorher zusammenarbeiteten.

Wir sind zwar in kürzester Zeit im Katastrophengebiet und können Patientinnen und Patienten sehr rasch behandeln, aber wir haben natürlich auch ehrgeizigere Ziele: Wir wollen auch auf die Institutionen Einfluss nehmen.
 Die Fassade des Saint Georges Hospital in Beirut wurde durch die Explosion beschädigt
Die Explosion beschädigte unzählige Gebäude, darunter auch viele Spitäler. Unter Aufsicht einer SKH-Bauexpertin wurden die notwendigen Reparaturarbeiten an zwei Spitälern vorgenommen. © EDA

Wie können Sie nach einer solchen Explosion die Sicherheit vor Ort gewährleisten?

Wir haben eng mit dem für die Gebäudestabilität verantwortlichen Team des SKH zusammengearbeitet. Wir konnten in allen notwendigen Bereichen auf Fachwissen zurückgreifen. Neben den mit der Explosion verbundenen Risiken mussten auch die Proteste in der Stadt und die COVID-19-Problematik berücksichtigt werden.

Wir machten alles in Absprache mit unseren libanesischen Kolleginnen und Kollegen, aber nicht an ihrer Stelle. In den Spitälern unterstützten wir das lokale Pflegepersonal. Wir boten unsere praktische und materielle Unterstützung an.

Das Engagement erfolgte in mehreren Phasen. Was haben Sie konkret für diese Spitäler unternommen?

In einer ersten Phase stellte die Fachgruppe «Bau» die Räumlichkeiten des Saint George Hospital rasch instand, damit wir die Arbeit möglichst schnell aufnehmen konnten. Dort haben wir unser «Mother and Child»-Team untergebracht. Gleichzeitig begannen wir mit der Arbeit im Karantina-Spital. Wir richteten eine Sprechstunde ein, einerseits damit der Betrieb wieder aufgenommen werden konnte und andererseits, um Patientinnen und Patienten an das Saint George Hospital verweisen zu können. Die Bau-Experten führen gleichzeitig umfassendere Instandstellungsarbeiten im Karantina-Spital durch, was einige Monate dauern wird.

Wir arbeiteten auch mit dem libanesischen Gesundheitsministerium, den Spitalleitungen und den Finanzabteilungen intensiv zusammen, so dass Verträge mit den entsprechenden Behörden unterzeichnet werden konnten. Es war ein sehr komplexer Prozess, an dem Pflegepersonen, Ingenieure, Architekten, Juristen und auch Diplomaten beteiligt waren. Wir machten alles in Absprache mit unseren libanesischen Kolleginnen und Kollegen, aber nicht an ihrer Stelle. In den Spitälern unterstützten wir das lokale Pflegepersonal. Wir boten unsere praktische und materielle Unterstützung an.

 Ein kleines Mädchen wird von medizinischem Personal untersucht, mit der Unterstützung von einem Experten des «Mother and Child»-Moduls.
Im Zentrum der Arbeit des «Mother and Child»-Moduls stehen medizinische Eingriffe für Kinder und die Unterstützung bei Geburten. © EDA

Wie viele Personen profitieren vom Mutter-Kind-Angebot?

Das Team kann während fünf Tagen rund hundert Patientinnen und Patienten selbständig betreuen. Weitere Ressourcen werden je nach Bedarf eingesetzt. In Beirut haben wir nicht einfach nur eine Struktur mit klar definierten Kapazitäten aufgezogen, sondern viel mehr getan: Wir haben geschwächten Institutionen geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Unser Engagement beschränkte sich also nicht auf die Betreuung einiger hundert Menschen. Mit unserem Engagement erhöhen wir die Sichtbarkeit eines besonders geschwächten Spitals und stärken es damit. Das Karantina-Spital ist ein öffentliches, nicht gewinnorientiertes Krankenhaus, das von Subventionen abhängig ist.

 Jean-Daniel Junod spricht mit einigen Kollegen vom SKH und lokalen Mitarbeitern
Das «Mother and Child»-Modul setzt sich aus ausgebildetem Personal von Kinderärzten, Anästhesisten, Geburtshelfern, Hebammen und Pflegefachleuten zusammen. © EDA

Wie ist es, mit lokalem Personal zusammenzuarbeiten?

Wunderbar! Bei unserer Ankunft waren wir sehr beeindruckt von den vielen jungen Menschen, die in den Strassen aufräumten und sich in den Spitälern engagierten. Wir trafen sehr engagiertes Personal. Sie waren jedoch alle sehr mitgenommen. Die Hebammen im Saint George Hospital sagten mir, dass sie fast alle schlecht schlafen, unter Schock stehen, ständig in Alarmbereitschaft und nervös sind. Vor diesem Hintergrund hatte die Anwesenheit des Schweizer Personals eine beruhigende Wirkung und sorgte für eine gewisse Atempause.

Sie haben auf Ihren Missionen in Haiti, Nepal, Indonesien und Libyen viele Erfahrungen gesammelt. Haben Ihnen diese in Beirut geholfen?

Ja, natürlich. Dank unseren Erfahrungen mit anderen Katastrophen wissen wir, dass wir ein Spital sehr schnell wieder zum Funktionieren bringen können. Der Zeitplan für die Wiedereröffnung, den wir bei unserer Ankunft erhielten, sah viel mehr Zeit vor, als wir tatsächlich benötigten. In dieser Hinsicht war unsere Mission ein voller Erfolg, der die Situation der Menschen konkret verbesserte!

Zudem haben wir gelernt, uns zu integrieren und mit Kolleginnen und Kollegen vor Ort zusammenzuarbeiten. Dies erfordert Bescheidenheit, Feingefühl und auch Kompromissbereitschaft bei gleichzeitiger Fähigkeit, medizinische Leistungen nach internationalen Standards zu erbringen.

Haben Sie auch nach Ihrer Rückkehr in die Schweiz noch Kontakt zum Lokalpersonal?

Die Kontakte, die wir vor Ort knüpfen, bleiben auch nach der Rückkehr in die Schweiz bestehen. Ein Jahr nach dem Einsatz von 2015 im nepalesischen Gorkha sind wir beispielsweise zusammen mit Kolleginnen und Kollegen des Universitätsspitals Genf zurückgekehrt und haben eine praktische Fortbildung durchgeführt.

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