«In der Schweiz besteht ein gutes Verhältnis zwischen Bevölkerung und Regierung»
Leendert Verbeek, Präsident des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates, weilte vom 30. April bis zum 3. Mai 2022 in der Schweiz. Ziel des Besuchs war es, dem Kongresspräsidenten vor Ort einen Einblick in den Schweizer Föderalismus zu geben. Hat er dabei Erkenntnisse gewonnen, die er in den Niederlanden oder im Kongress nutzen kann? Seine Antworten auf unsere Fragen.
Kongresspräsident Leendert Verbeek spricht über seine erste offizielle Reise in die Schweiz. © DFAE
Herr Verbeek, dies ist Ihr erster offizieller Besuch in der Schweiz. Welche Beziehung hatten Sie bisher zur Schweiz und welches Bild hatten Sie von unserem Land und unserer kommunalen und regionalen Demokratie?
Ich befasse mich in meinen Reden häufig mit den Zusammenhängen zwischen der Kultur eines Landes, der Mentalität seiner Bevölkerung und der Art und Weise, wie es die Demokratie in seinem Hoheitsgebiet umsetzt. Die Schweiz verfügt über ein besonderes Demokratiemodell, das sie einzigartig macht.
Auch die Geografie der Schweiz ist speziell. Die Schweiz liegt inmitten von Bergen und ist in Kantone unterteilt. Das ist eine ganz andere Situation als in den skandinavischen Ländern, den Mittelmeerländern, den osteuropäischen Staaten und auch den Niederlanden, einem flachen Land mit mehreren Provinzen. Diese Unterschiede machen die Schönheit der Schweiz aus und widerspiegeln sich in der Ausgestaltung ihrer Demokratie.
Am Sonntag waren Sie an der Landsgemeinde in Glarus. Welches waren Ihre Eindrücke?
Ich kannte das System der Landsgemeinde, aber es natürlich etwas anderes, selbst dabei zu sein. Es waren etwa 8000 bis 10 000 Personen im Ring. Interessant war für mich auch, dass sich Alt und Jung sehr aktiv an den Debatten beteiligten. Bei jedem Thema meldeten sich mehrere Personen zu Wort, und die Abstimmungen fielen zum Teil sehr knapp aus. Nach jeder Abstimmung wurde das Ergebnis verkündet. Man kann auch viel von der Körpersprache und der Mimik der Leute ablesen. Man spürte, dass sie sehr zufrieden waren, dass sie ihre demokratische Pflicht erfüllt hatten.
Die Schweiz wird oft als gutes Beispiel für eine direkte Demokratie genannt. Der letzte Monitoringbericht des Kongresses zur Schweiz fiel «besonders positiv» aus. In welchen Bereichen kann die Schweiz einen besonderen Beitrag zur Arbeit des Kongresses leisten?
Die Schweiz ist ein vorbildliches Beispiel einer Demokratie, das sich aber nicht einfach kopieren lässt. Die Schweiz ermöglicht zudem einen guten Einblick in die Beziehung zwischen Bevölkerung und Regierung. Die Frage nach dem Verhältnis der Regierung zur Bevölkerung steht in jedem Land ganz oben auf der Tagesordnung. Wie kommunizieren wir mit der Bevölkerung? Wie erklären wir die zum Teil schwierigen Entscheide, die wir getroffen haben? Das Schweizer Modell bietet recht einfache Antworten. Die Bevölkerung akzeptiert die Entscheide, weil sie in den Prozess und in die Debatte eingebunden ist, sich die Argumente anhören und mitentscheiden kann. Dieses Verständnis des Systems ist auch kulturell bedingt.
In meiner Provinz Flevoland, die 420’000 Einwohnerinnen und Einwohner hat, können wir das Modell der Landsgemeinde nicht einfach übernehmen. Wenn wir dies auf lokaler Ebene tun würden, käme nur ein sehr kleiner Teil der Einwohnerinnen und Einwohner. Das entspricht nicht der Kultur der Niederlande. Um eine Landsgemeinde einzuführen, müsste man die Provinzen verkleinern. Wie Sie wissen, geht der Trend heute jedoch in Richtung immer grösserer Provinzen und Regionen. Deshalb müssen wir andere demokratische Lösungen finden.
Wo sehen Sie Verbesserungsmöglichkeiten in der Schweiz?
Das Beispiel Glarus zeigt auch, dass es Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Die 8000 bis 10 000 Personen, die am Sonntag an der Landgemeinde waren, entsprechen rund 50 Prozent der Stimmbevölkerung. Die andere Hälfte fehlte. Welche Meinung haben diese 50 Prozent der Stimmberechtigten? Die Kantonsregierung sollte in der Lage sein, die Meinung derjenigen einzuholen, die nicht anwesend waren, und sie sollte sich auch fragen, warum sie nicht an der Abstimmung teilnahmen. Das ist ein sehr heikles Thema, das aber angegangen werden muss.
Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der kommunalen und regionalen Demokratie in den Niederlanden und der Schweiz?
Ich sehe viele Gemeinsamkeiten, das aber eher allgemein mit den westeuropäischen Staaten, zu denen die Niederlande gehören. Die Menschen, die in diesen Ländern leben, haben wie die Schweizerinnen und Schweizer eine klare Vision. Sie haben keine Angst, ihre Meinung zu äussern. Es handelt sich um eine uralte Kultur, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat. Diese Menschen äussern ihre Meinung freiheraus. Parallelen zwischen der Schweiz und den Niederlanden sehe ich in der Haltung der Menschen, in ihrer Offenheit, ihrer Bereitschaft, zu diskutieren und Kompromisse zu suchen, aber auch in der Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man – so ist das nun einmal.
Sie sind der Kommissar des Königs für die Provinz Flevoland. Welche Erfahrungen aus Ihrem europäischen Mandat können Sie in den Niederlanden nutzen?
Dank meiner Erfahrung und meiner langjährigen Tätigkeit im Kongress habe ich einen breiten Überblick über das, was im Ausland geschieht. Und ich kann unsere eigene Demokratie besser beurteilen als vorher. Wie funktioniert sie, welche Gewohnheiten haben sich herausgebildet, welche informellen Regeln gilt es zu befolgen? Im eigenen Land denken wir normalerweise nicht über solche Dinge nach. Erst im Vergleich mit anderen Systemen lernen wir unser eigenes System besser kennen.
Ich habe zum Beispiel mit vielen Glarnerinnen und Glarnern gesprochen. Dabei hatte ich den Eindruck, dass sie sich ihrer eigenen Werte sehr bewusst sind, sich aber weniger Gedanken darüber machen, was ausserhalb des Kantons geschieht.
Die russische Militäraggression gegen die Ukraine ist ein allgegenwärtiges Thema, auch im Kongress. Inwiefern wirkt sich die Situation auf den Auftrag des Kongresses und Ihre eigene Arbeit aus?
Der Europarat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um Kriege zu verhindern, nicht um Kriege zu bewältigen. Es ist uns fast 70 Jahre lang gelungen, den Frieden zu bewahren, was an sich schon ein Erfolg ist. Aber jetzt haben wir es nicht geschafft, den Krieg zu verhindern. Es gab politische Debatten und Gespräche mit ukrainischen und russischen Vertreterinnen und Vertretern, aber ohne Erfolg. Dann hat Russland aus seinen eigenen Gründen angegriffen.
Russland hat gegen sämtliche Werte des Europarates verstossen. Es ist uns nicht gelungen, Russland in unsere Gespräche einzubinden. Deshalb ist es an der Zeit, dass der Europarat seine Position, seinen Auftrag und seine Rolle überdenkt und die Mittel und Ressourcen zur Umsetzung seiner Ziele neu definiert. Der Kongress schliesst sich den Akteuren an, die einen Gipfel der Staats- und Regierungschefs fordern. Diese Debatte kann auf höchster politischer Ebene geführt werden. Wir müssen uns neu überlegen, was wir im Europarat erreichen wollen, und eine Agenda für die Zukunft und für die kommenden Jahrzehnte aufstellen.
In welchen Bereichen kann der Kongress die Ukraine besonders unterstützen? Welche konkreten Initiativen hat der Kongress lanciert?
Ein wichtiger Schritt bestand darin, Russland klar zu machen, dass dieser Krieg nicht akzeptabel ist. Die territoriale Integrität eines Mitglieds des Europarates ist unantastbar. Die Invasion hat dazu geführt, dass die übrigen Mitgliedstaaten geschlossener auftreten als je zuvor.
Die Ukraine gehört dem Europarat und dem Kongress natürlich weiterhin an. Deshalb organisieren wir insbesondere auf dieser Ebene alle möglichen Aktivitäten zur Unterstützung des Landes. Wir sprechen mit den Bürgermeistern, der Regierung und dem Parlament. Wir haben die Plattform www.cities4cities.eu eingerichtet, auf der wir Wissen austauschen, Fragen stellen und Verbindungen zwischen Städten herstellen, die diese Aktivitäten unterstützen wollen. Es geht darum, humanitäre Hilfe und Unterstützung in Form von Generatoren, Maschinen und medizinischer Ausrüstung zu leisten und Erfahrungen im Bereich der Geschäftskontinuität auszutauschen, so dass grundlegende kommunale Dienstleistungen auch im Krieg aufrechterhalten werden können.
Interessant ist auch zu sehen, wie wichtig es ist, den Kontakt mit dem ukrainischen Präsidenten, aber auch mit den lokalen Vertreterinnen und Vertretern zu halten. Werden die Diskussionen zielgerichteter geführt?
Ja, das werden sie! Es ist sehr interessant zu sehen, wie sich die Rolle der Vertreterinnen und Vertreter im Kongress, z. B. von Bürgermeistern, in Kriegszeiten entwickelt. Ohne die Unterstützung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften könnten wir keine spezifische und gezielte Hilfe organisieren. Aber es ist natürlich nicht immer einfach.
Vor Kurzem hatten wir beispielsweise ein Treffen mit Mitgliedern des Kiewer Stadtrates, bei dem es um die Diskussionen über die Rolle der Armee ging. Welches sind die Zuständigkeiten der Armee, welches die Zuständigkeiten der Gemeinden? Welche Entscheide werden auch im Krieg vom Bürgermeister und vom Gemeinderat getroffen? Und was geschieht nach dem Krieg? Die Lokalbevölkerung und die Vertreter vor Ort werden unsere Hilfe benötigen, sobald es darum geht, die demokratischen Institutionen und Verfahren wiederherzustellen.
Über den Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates
Der Europarat mit Sitz in Strassburg ist die älteste zwischenstaatliche Organisation Europas. Seine Kernthemen sind der Schutz und die Förderung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit.
Der Kongress der Gemeinden und Regionen ist ein Organ des Europarates. Die weiteren Organe sind das Ministerkomitee, die Parlamentarische Versammlung und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Der Kongress ist ein beratendes Organ und besteht aus 612 gewählten Vertreterinnen und Vertretern der 46 Mitgliedstaaten (306 Delegierte und 306 Stellvertreterinnen und Stellvertreter). Der Kongress wacht über die Umsetzung der Grundsätze der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, organisiert Beobachtungsmissionen für Gemeinde- und Regionalwahlen und berät die anderen Organe zu Fragen der regionalen und kommunalen Politik.