Tragen wir Sorge zu unserer liberalen Gemeinschaft

Sommerferien im Tessin, eine Welt, die aus den Fugen zu geraten droht und die grosse Herausforderung, auch bei hitzigen Diskussionen nie die Möglichkeit aus den Augen zu verlieren, dass unser Gegenüber durchaus Recht haben könnte. In einem Gastbeitrag gibt Bundesrat Ignazio Cassis in der Weltwoche Einblick in seinen Sommer und seine persönlichen Gedanken zur Vorbildfunktion der Schweiz in global unruhigen Zeiten.

17.09.2020
EDA
Bundesrat Ignazio Cassis läuft im Swissminiatur über eine Autobrücke.

Geduld, Engagement und Dialog: In seinem Gastbeitrag in der Weltwoche beschreibt Ignazio Cassis was die Schweiz in seinen Augen so erfolgreich macht. © Gianluca Simone

Als Bundesrat wird man oft gefragt, wohin man in den Sommerferien reist. Meine Antwort ist immer die gleiche: ins Tessin natürlich! Das mag überraschen. Als Aussenminister hat es einen in die Welt hinauszuziehen. Wenn man aber das ganze Jahr über unterwegs ist, freut man sich auf zuhause. Man sucht die Ruhe, die Geborgenheit, das Vertraute. Der Alltag als Bundesrat ist von einem engen Sitzungstakt geprägt. Das ist vergleichbar mit einer Hausarztpraxis: man eilt von einem Patienten zum nächsten. Zeit für eine fundierte Therapie bleibt selten.

Der Sommer bietet die Möglichkeit der Regeneration. Er erlaubt es mir, mich vertieft mit Themen auseinanderzusetzen. Mal wieder Zeit zu Lesen! Das EDA bietet die perfekte Sommerlektüre: von unseren Regionalstrategien in geografischen Schwerpunktländern über unseren Weg in eine digitale Zukunft bis hin zum Bericht zum humanitären Völkerrecht. Die Musse des Sommers bietet mir aber auch immer die Freiheit, mich in ein neues Lektüreabenteuer zu stürzen. So wagte ich mich in diesem Jahr an den literarisch-politischen Diskurs zum liberalen Konservatismus mit Sergio Morisolis «Liberalconservatismo».

 

Die Welt spinnt und wir mit ihr

Der Sommer bietet die Freiheit mutig zu sein. Der Sommer bietet aber vor allem auch die innere Tranquilität, auf der Terrasse die Zeitung zu studieren, sich mit dem Weltgeschehen zu befassen. Allerdings war das in diesem Jahr irgendwie ein Dämpfer auf meine Ferienstimmung. Ein Krieg hier, ein Putsch dort. Demonstrationen, Krawalle, Ausschreitungen. Daneben ein Wettrüsten der internationalen Grossmächte, humanitäre Tragödien nach Explosionen und Hungersnöten, und als wäre das nicht schlimm genug, deckt eine globale Pandemie schonungslos unsere gesundheitlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schwachstellen auf. Die Welt spinnt. Und wir mit ihr.

Fakt ist, wir befinden uns in einer politisch instabilen Wetterlage. Aber mal ehrlich, wenn wir die menschliche Entwicklung betrachten, war diese selten geprägt von eitlem Sonnenschein. Wir tendieren lediglich dazu, die Kumuluswolken der Instabilität in der romantischen Retrospektive auszublenden. Musste die Geschichte früher über Generationen erzählt und interpretiert werden, erleben wir sie heute in Echtzeit. War früher Politik ein Thema der Regierung, gehört sie je länger je mehr dem Volk. Die weltweite Demokratisierung nimmt zu, Armut, Analphabetismus und Arbeitslosigkeit nehmen ab. Die Schweiz wird zu einem Vorbild der politischen Partizipation. Wir tun also gut daran, trotz Hitzewallungen einen kühlen Kopf zu bewahren.

 

Einzigartig geht nur im Austausch

Eine gewisse emotionale Gelassenheit schadet allgemein nicht. Insbesondere dann nicht, wenn es um unsere Beziehungspflege geht. Wir Menschen sind Herdentiere. Wir suchen die Nähe und definieren uns durch die Distanz. Eine Partnerschaft bedingt intensive Pflege und klare Regeln. Das gilt für Menschgen genauso wie für Staaten. Länder sind auch nur Menschen. Sie sind eigenständig, eigenwillig und vor allem bunt. Es gibt nicht die eine Schweiz. Genau so wenig wie es das eine Europa gibt. Europa ist nicht die EU. Und die EU ist nicht Brüssel. Die Europäische Union besteht aus 27 Ländern. Darunter unsere Nachbarstaaten.

Allein unser wirtschaftlicher Austausch mit Baden-Württemberg und Bayern ist grösser, als unsere Handelsbeziehungen mit ganz China. Solche langjährigen Beziehungen sind keine kurzlebigen Sommerflirts. Sie basieren auf harter Arbeit, klaren Regeln und Kompromissen auf beiden Seiten. Eine politisch-wirtschaftliche Freundschaft, die für Stabilität und Wohlstand sorgt. Eine kollektive Verbundenheit, die uns unsere individuelle Freiheit erlaubt. Die Schweiz ist erfolgreich, weil sie einzigartig ist. Aber einzigartig geht nur im Austausch. Unsere Alterität ist das Ergebnis langjähriger Gemeinschaft.

 

Lassen Sie uns miteinander reden

Apropos Einzigartigkeit: Die individuelle Freiheit wird in der Schweiz grossgeschrieben. Niemand darf diskriminiert werden, weil er anders ist – weder bezogen auf die Hautfarbe noch auf das Geschlecht. In unserer Souveränität einzigartig zu sein sind wir in der Schweiz alle gleich. So steht es in unserer Bundesverfassung. Jeder von uns hat das Recht, eine eigene Meinung zu bilden und diese zu äussern. Für die Aussicht einzigartig zu sein, gehen wir vereint auf die Strasse. Vor lauter Eintracht für mehr Individualität laufen wir dabei Gefahr, eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Demokratie zu verlieren: unsere Meinungsvielfalt.

Aus der individuellen Freiheit, seine Gedanken zu äussern, wird ein kollektiv verpflichtender Mainstream. Politisch korrekt ist, was die Mehrheit denkt. Gefangen in dieser Identitätspolitik wird eine ehrliche Diskussion im Keim erstickt. Es ist aber eben dieser öffentliche Diskurs, der die Schweiz ausmacht. Unser Land ist seit Generationen erfolgreich, weil wir die Freiheit der Essenz pflegen. Tragen wir Sorge zu unserer liberalen Gemeinschaft. Lassen Sie uns miteinander reden und dabei immer den Verdacht haben, dass unser Gesprächspartner durchaus auch mal Recht haben könnte.

 

Beitrag erschienen im Magazin Weltwoche, Donnerstag, 17. September 2020. Mehr auf www.weltwoche.ch

Zum Anfang