Call for Action: Schweiz unterstützt Bildung in Notsituationen
Weltweit gingen über 90 Prozent aller Schulkinder und Studenten wegen COVID-19 nicht zur Schule. In Entwicklungsländern und Konfliktregionen ein besonderes Problem, bieten Schulen neben Bildung, einen geschützten Ort für die physische und psychische Entwicklung. Die Schweiz setzt ein Zeichen: Gemeinsam mit Partnerorganisationen ruft sie in einem Call for Action die internationale Gemeinschaft dazu auf, Bildung in Notsituationen zu stärken.
Schule bedeutet für viele Kinder nicht nur Bildung, sondern auch Schutz. Gerade Mädchen sind bei Schulschliessungen von Gewalt, sexuellen Übergriffen und Kinderheirat betroffen. © Education Cannot Wait
Leere Klassenzimmer, Matheunterricht über Video-Chat und Kinder, die neben ihren Eltern im Home-Office für die Musikstunde üben – die COVID-19 Pandemie hat nicht nur das Zusammenleben in Schweizer Familien grundlegend verändert, sondern auch die Art und Weise, wie die Kinder lernen. Ist das Recht auf Bildung hierzulande eine Selbstverständlichkeit und der digitale Schulunterricht während COVID-19 Alltag geworden, hat die Pandemie auch hierzulande aufgezeigt, was Bildung in Notsituationen bedeuten kann. Wie Kinder lernen sollen, ohne die Schule besuchen zu können, wie man soziale Kontakte auf Distanz pflegen kann und wie man als Familie ein Zusammenleben auf engem Raum koordiniert – solche Fragen mussten in der Schweiz bis dahin kaum gestellt werden.
Das Recht auf Bildung und der Unterricht müssen weitergehen, auch dann, wenn Schulen aus Gesundheitsgründen geschlossen werden. Die Schweiz hat die nötigen finanziellen Mittel, verfügt über die erforderlichen Strukturen und die technischen Möglichkeiten, um auf andere Form des gemeinsamen Lernens umzusteigen. Aber sogar in Ländern wie der Schweiz, wo der digitale Unterricht in den letzten Wochen zum Normalzustand wurde, dürfte die COVID-bedintge Unterbrechung des klassischen Schulalltages laut Experten eine negative Auswirkung auf die Lernergebnisse haben. Vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien dürften Stoff verpasst haben und im Unterricht zurückfallen. Das birgt ein grosses Risiko der Chancengleichheit und kann schulische und soziale Folgen haben.
Schulschliessungen in über 190 Länder dieser Welt
Noch drastischer sind die Konsequenzen der Schulschliessungen in Entwicklungsländern und Krisenregionen. «Viele Bildungssysteme in Entwicklungsländern hatten bereits vor Ausbruch von COVID-19 mit zahlreichen Problemen zu kämpfen – Kinder, die nicht zur Schule gehen oder diese nicht abschliessen können, mangelnde Qualität, fehlende Kapazität der Bildungsbehörden oder moderate Infrastruktur. Die Schliessung von Schulen im Zusammenhang mit COVID-19 stellt für viele Partnerländer der DEZA eine zusätzliche Belastung dar, die langfristige Folgen für die Bevölkerung und die Wirtschaft mit sich bringt», erklärt Botschafter Thomas Gass, Leiter des Bereichs Südzusammenarbeit bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA).
Rund 1,6 Milliarden junge Menschen waren in den vergangenen Monaten zeitweise über Wochen von landesweiten Schulschliessungen betroffen. Das entspricht gut 90 Prozent der weltweiten Schüler- und Studentenschaft. Die COVID-19 Pandemie hat ein nie dagewesenes Ausmass auf den Bildungssektor mit möglichen langfristigen negativen sozialen und wirtschaftlichen Folgen. Gerade in Entwicklungsländern, die bereits vor COVID-19 über knappe Bildungsressourcen und schwache Bildungssysteme verfügten und wo die Zahl der jungen Bevölkerung oft gross ist.
Gefahr von Armut, Mangelernährung und Kinderarbeit
Viele dieser jungen Menschen leben in Krisenkontexten. Schule ist für Kinder in Konfliktregionen mehr als die Möglichkeit, Rechnen, Lesen und Schreiben zu erlernen. Schule bedeutet Schutz, sicheres Umfeld und oft auch eine bessere Gesundheit. «Während COVID-19 haben wir gesehen, welche Auswirkungen eine Pandemie auf das unmittelbare Wohlergehen von Kindern in Krisengebieten hat. Kinder gehören zu den Verletzlichsten in humanitären Notsituationen. Schulschliessungen aufgrund von COVID-19 haben sie noch vulnerabler gemacht: sie sind vermehrt Gewalt ausgesetzt, haben erhöhte Gesundheitsrisiken oder Mangelernährung, weil Hygienemassnahmen und sauberes Wasser zuhause prekärer sein können oder vielerorts die üblichen Schulkantinen aufgehoben wurden», erklärt Botschafter Manuel Bessler, Leiter der Humanitären Hilfe (HH) der DEZA. So sind beispielsweise wegen COVID-19 300 Millionen Kinder auf warme Mahlzeiten angewiesen, die sie im Normallfall in der Schule bekommen und der wirtschaftliche Druck auf die Familien nimmt weiter zu. Die UNO befürchtet, dass die Kinderarbeit wegen den Folgen von COVID-19 für die ärmsten Familien zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder ansteigt einerseits und der in den vergangenen Jahren erfolgte Fortschritt im Bildungszugang einen Rückschritt erlebt andererseits.
Denn der COVID-bedingte Unterrichtsunterbruch riskiert, dass viele Kinder ärmerer Schichten den Anschluss dauerhaft verpassen und keinen Schulabschluss erlangen werden. Ein Umstand, der langfristige negative Auswirkungen hat – sowohl auf die Entwicklung und die Gesundheit der Kinder, auf ihre Lebens- und künftigen Arbeitsperspektiven als auch auf das soziale Gefüge und die wirtschaftliche Situation fragiler und von Konflikt betroffener Länder.
Schule bietet Bildung, Zuflucht und Zukunftsperspektiven
Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht, welches Kindern erlaubt, in Sicherheit ihr Potenzial zu entwickeln und ihnen Perspektiven bietet. Dieses Recht darf in einer Notsituation nicht ausgesetzt werden, auch wenn die Herausforderungen zunehmen. Doch gerade in fragilen Regionen stehen die in den letzten Jahren gemachten Fortschritten und die Erreichung des Entwicklungsziels (SDG 4) im Bereich Bildung auf dem Spiel. Dies betrifft auch die Millionen von Kinder, die fliehen mussten – über die Hälfte der rund 26 Millionen Flüchtlinge und 50 Millionen Binnenvertriebene sind minderjährig.
«Gerade Flüchtlingskinder, egal ob in Lagern oder in urbanen Zentren, sind oftmals marginalisiert und haben ein erhöhtes Risiko durch die Bildungsmaschen zu fallen», erklärt Pietro Mona, Botschafter für Entwicklung, Flucht und Migration. Wieder in die Schule gehen oder überhaupt zum ersten Mal die Schulbank drücken zu können, gibt ihnen Hoffnung und Perspektiven auf eine bessere Zukunft, hilft aber auch, sich in der lokalen Gesellschaft zu integrieren. Deshalb hat die Schweiz am ersten globalen Flüchtlingsforum von Dezember 2019 die Förderung Genfs als globales Zentrum für Bildung in Notsituationen lanciert, um auf Bildung in Notsituationen vermehrt aufmerksam zu machen. Unterstützt wird diese Initiative von verschiedenen akademischen Institutionen und internationalen Organisationen.
Zusammenarbeit Humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit
Konfrontiert mit den zusätzlichen COVID-bedingten Bildungsherausforderungen und den zu erwartenden humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Folgeerscheinungen, hat die Schweiz gemeinsam mit Partnerorganisationen einen Call for Action lanciert. Darin wird die internationale Gemeinschaft dazu aufgerufen, den Auswirkungen von COVID-19 auf die Bildung von Kindern in Konflikt-, Krisen-, Migrations- und Fluchtkontexten die dringend benötigte Beachtung zu schenken und Bildung in Notsituationen zu stärken.
Für den Leiter der DEZA-Südzusammenarbeit, Botschafter Tomas Gass, zeigt die aktuelle Auswirkung der COVID-Pandemie auf den Bildungssektor, wie wichtig gemeinsames und Sektoren übergreifendes Vorgehen ist: «Die COVID-Auswirkungen auf die Bildung zeigen, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen Gesundheit und Bildung und zwischen Humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit von zentraler Bedeutung sind. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Kinder während akuten Krisen weiter lernen können und dass Bildungsbehörden in Partnerländern die nötige Unterstützung erhalten, ihre Bildungssysteme soweit zu verbessern, dass sie für Gesundheitskrisen, für Konflikte, Migrations- und Flüchtlingsströme und Naturkatastrophen ausgerüstet sind. Und dass sie allen Kindern und Jugendlichen, unabhängig ihrer sozialen oder ökonomischen Herkunft, eine qualitativ hochwertige Bildung gewähren können.»
Bildung in Notsituationen als Teil des Schweizer Selbstverständnisses
Die Schweiz setzt sich seit Jahren für das Recht auf Bildung ein und hat die Bildungsziele in ihrer Strategie der internationalen Zusammenarbeit (IZA) verankert. Sie engagiert sich in Afrika, dem Mittleren Osten und in Asien dafür, dass von Konflikt, Migration und Flucht betroffene Kinder Schutz und Zugang zu einer guten Schulbildung erhalten. Zudem ist sie seit Ende 2019 Mitglied des Exekutivrats von Education Cannot Wait, dem neuen Fonds für Bildung in Notsituationen, der sich für
das Recht auf Bildung von Kindern in humanitären Krisen- und Fluchtsituationen einsetzt. Gleichzeitig ist die Schweiz seit 2009 Mitglied und Teil des Verwaltungsrats der Global Partnership for Education, welche Bildungsministerien in Entwicklungsländern hilft, ihre Bildungssysteme nachhaltig zu verbessern. Anlässlich des Globalen Flüchtlingsforums im Dezember 2019 hat die Schweiz zudem einen Aufruf gemacht, Genf als «Globalen Hub für Bildung in Notsituationen» zu fördern. Der Aufruf wird von folgenden Institutionen mitgetragen: Education Cannot Wait, Global Education Cluster, Graduate Institute of International and Development Studies, IKRK, Inter-Agency Network for Education in Emergencies, UNICEF und die Universität Genf. Der aktuelle Call for Action Bildung in Notsituationen wurde von dieser Gruppe erarbeiten, in Zusammenarbeit mit dem UNO Hochkommissariat für Flüchtlinge, der UNESCO und der Internationalen Organisation für Migration.