«Das libysche Volk will seinen politischen Willen auf demokratische Weise kundtun»

Seit 2009 engagiert sich die Schweiz in Libyen: durch ihre Friedenspolitik, ihre humanitäre Hilfe sowie Projekte im Bereich der Migrationsaussenpolitik. Dass die Schweiz eine wichtige Rolle spielt, beweist der jüngste Besuch von Botschafter Simon Geissbühler, Chef der EDA-Abteilung Frieden und Menschenrechte, in Libyen. Wir haben ihm fünf Fragen gestellt.

Junge Leute spielen Fussball an einem Strand in der Stadt Garabulli, rund 70 km von der Hauptstadt Tripolis entfernt.

Das libysche Volk will seinen politischen Willen auf demokratische Weise kundtun und ist bereit dazu. © Keystone

Die Schweiz ist vor allem seit ihrer Teilnahme als Mitgliedstaat des Berliner Prozesses zu Libyen (2020) zu einer wichtigen Akteurin im libyschen Friedensprozess geworden. Zur Unterstützung des UNO-Friedensprozesses mit den libyschen Akteuren strebt der Berliner Prozess eine internationale Kohärenz an, um in Libyen die Voraussetzungen für einen Friedensdialog zu schaffen. Vor diesem Hintergrund ist die Schweiz gemeinsam mit den Niederlanden und der UNO Co-Vorsitzende der Arbeitsgruppe zur Förderung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte.

Seit Februar 2020 ermöglichte sie als Gaststaat zudem die Durchführung von sieben Treffen zum UNO-Friedensprozess. Dabei wurden zwei wichtige Fortschritte für Libyen erzielt: die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens zwischen den beiden Konfliktparteien am 23. Oktober 2020 in Genf sowie die Wahl einer neuen Übergangsregierung am 5. Februar 2021 im Kanton Waadt.

Nach der zweiten Berliner Konferenz vom 23. Juni 2021 empfing die Schweiz vom 28. Juni bis zum 1. Juli 2021 eine weitere Sitzung des Libyschen Forums für politischen Dialog, die von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL) organisiert wurde. Das Treffen war ein Meilenstein im libyschen Friedensprozess. Es bot den libyschen Akteuren Gelegenheit, sich über den rechtlichen Rahmen für die voraussichtlich am 24. Dezember 2021 stattfindenden nationalen Wahlen zu einigen. Dass die Schweiz dabei eine wichtige Rolle spielt, beweist der jüngste Besuch von Botschafter Simon Geissbühler, Chef der EDA-Abteilung Frieden und Menschenrechte, in Libyen. Das Land ist sowohl für die Friedensförderung als auch für die Humanitäre Hilfe der DEZA ein Schwerpunktland. Fünf Fragen an Botschafter Simon Geissbühler:

 

Porträt von Simon Geissbühler.
Dass die Schweiz dabei eine wichtige Rolle spielt, beweist der jüngste Besuch von Botschafter Simon Geissbühler in Libyen. © EDA

Wie wird das Engagement der Schweiz für den Friedensprozess in Libyen im Land selber wahrgenommen?

Das Engagement der Schweiz für Libyen und den libyschen Friedensprozess steht im Einklang mit ihrem allgemeinen Engagement für Frieden und Menschenrechte in der MENA-Region und weltweit. Die Schweiz geniesst dank ihrer Tradition im Bereich der guten Dienste, der Vermittlung und der humanitären Hilfe einen hervorragenden Ruf in der Region.

Sie gilt namentlich als Referenz im Bereich des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte. In diesem Sinn war es für die anderen Länder selbstverständlich, dass die Schweiz zusammen mit den Niederlanden die Arbeitsgruppe präsidiert, die sich im Rahmen des Berliner Prozesses mit diesen Fragen beschäftigt.

Dank ihrer Glaubwürdigkeit und ihrer guten Beziehungen mit den Regierungen, der UNO und den regionalen Organisationen ist die Schweiz in der Lage, den Dialog zu fördern. 

Worum ging es bei Ihrer Reise nach Tripolis?

Gemeinsam mit Botschafter Manuel Bessler, dem Delegierten für Humanitäre Hilfe und Chef des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH), war ich vom 24. bis zum 27. Mai 2021 in Tripolis. Es war der erste Besuch einer hochrangigen Schweizer Delegation in Libyen seit der Schliessung der Schweizer Botschaft im Jahr 2014.

Die Mission verfolgte mehrere Ziele. Als erstes ging es um eine Lagebeurteilung, um besser zu verstehen, in welchen Prozessen und Handlungsfeldern die Schweiz einen Mehrwert leisten kann. Des Weiteren ging es um eine Kontaktaufnahme mit der neuen Regierung der nationalen Einheit (Government of National Unity, GNU). Wir wurden vom libyschen Premierminister Dabaiba, der Justizministerin Abderrahman, der Aussenministerin al-Mangoush und eines Mitglieds des Präsidialrats, Mussa al-Koni, empfangen. Zu den Prioritäten der GNU gehört die Durchführung von nationalen Wahlen, die gemäss politischem Fahrplan am 24. Dezember 2021 stattfinden sollen. Wir haben diese Treffen genutzt, um der neuen Regierung die Unterstützung der Schweiz zuzusichern und sie zu ermutigen, für ein günstiges Klima für freie und transparente Wahlen zu sorgen. Schliesslich war es uns auch ein Anliegen, Vertreterinnen und Vertreter der libyschen Zivilgesellschaft zu treffen, um ihre Zukunftsvisionen für Libyen und ihre Schwierigkeiten angesichts dieses sehr komplexen Umfelds besser zu verstehen.

Der gemeinsame Besuch eines Vertreters der Abteilung Frieden und Menschenrechte und eines Vertreters der Humanitären Hilfe erlaubte es, die Situation im Land aus zwei verschiedenen Perspektiven zu beurteilen. 

Die Durchführung freier Wahlen ist eine der Voraussetzungen für Frieden und Stabilität in Libyen. Ist das libysche Volk bereit?

Das libysche Volk will seinen politischen Willen auf demokratische Weise kundtun und ist bereit dazu. Aber die Herausforderungen bleiben enorm. Nach zwei Bürgerkriegen, die auf die Revolution von 2011 folgten, ist die Situation weiterhin fragil. Ein für die Wahlen ungünstiges Klima birgt die Gefahr einer neuen Destabilisierung: So könnten zum Beispiel einige Akteure das Wahlergebnis nicht anerkennen. Der Wahlprozess muss auf jeden Fall inklusiv sein. Wichtig ist auch, dass die Zivilgesellschaft ihre Rolle als Gegengewicht zu den politischen Parteien wahrnehmen kann.

Wir müssen uns bewusst sein, dass Veränderungen Zeit brauchen und die Transition nur schrittweise erfolgen kann. Die Schweiz unterstützt weiterhin demokratische Wahlen und den Übergang zu einem dauerhaften Frieden in Libyen. 

Bei der zweiten Berliner Konferenz wurden die libyschen Akteure in die Diskussionen einbezogen. Lässt dies darauf schliessen, dass das Land aus der Sackgasse herausfindet?

Die volle Teilnahme Libyens an der zweiten Berliner Konferenz vom 23. Juni 2021 ist ein starkes Zeichen für die positiven Veränderungen der letzten Monate. Die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Genf, der Beginn der Wiedervereinigung staatlicher Institutionen und die Einrichtung der GNU stellen zweifelsohne wichtige Schritte dar. Die Teilnahme von Bundesrat Cassis hat ihrerseits dazu beigetragen, den Schweizer Beitrag an den libyschen Friedensprozess zu valorisieren.

Die Schweiz hat gern zu diesen Erfolgen beigetragen, insbesondere durch die Ausrichtung der Verhandlungen und die Wahl der vorübergehenden Exekutivbehörde durch das Libysche Forum für politischen Dialog im Februar 2021.

Die Teilnahme von Vertreterinnen und Vertretern Libyens an der Konferenz ermöglichte es den Mitgliedstaaten des Berliner Prozesses, die bereits unternommenen Anstrengungen in den Vordergrund zu stellen, aber auch die noch bestehenden grossen Herausforderungen offen anzusprechen, darunter die rasche Verabschiedung des rechtlichen Rahmens für die Wahlen und die vollständige Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens. Die Mitgliedstaaten des Berliner Prozesses erinnerten daran, dass dieses Abkommen den Abzug aller ausländischer Streitkräfte und Söldner vorsieht, die die verschiedenen Parteien im libyschen Konflikt unterstützt haben. Diesen Erklärungen müssen nun Taten folgen, damit die libysche Bevölkerung konkrete Veränderungen sieht. Diese heiklen Punkte zeigen, dass das neue Fundament noch fragil ist und dass noch mehr unternommen werden muss für eine dauerhafte Stabilität in Libyen.

Warum engagiert sich die Schweiz in Libyen?

Nordafrika liegt in unmittelbarer Nähe der Schweiz. Aufgrund seiner geografischen Lage und geopolitischen Bedeutung ist Libyen ein privilegierter Partner für die Schweiz und für Europa. Die Schweiz hat auch ein direktes Interesse an Libyens Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung. Denken wir nur an die Migration. Grundsätzlich ist es im Interesse der Schweiz, dass ganz Nordafrika stabil, wohlhabend und rechtsstaatlich organisiert ist.

Frieden und Sicherheit sind Prioritäten der Aussenpolitischen Strategie 2020–2023 sowie der Strategie für den Mittleren Osten und Nordafrika 2021–2024 des Bundesrats. Der Einsatz für die Beilegung von Konflikten und die Stärkung der Menschenrechte ist Teil dieses Engagements. Zudem setzt die friedliche Konfliktlösung bei den tiefer liegenden Ursachen von Zwangsmigration wie bewaffnete Konflikte und Menschenrechtsverletzungen an und trägt so zur Verminderung der irregulären Migration bei. Die humanitäre Hilfe fördert die Unterstützung und den Schutz von Menschen in Not. Mit ihrem humanitären Engagement will die Schweiz den Schutz der Zivilbevölkerung und deren Zugang zu einer hochwertigen Grundversorgung verbessern. Dabei betont sie die Einhaltung humanitärer Grundsätze. 

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