«Im Kongress sprechen wir viel über die Schweizer Demokratie»

Der Präsident des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates, Leendert Verbeek, weilt vom 30. April bis zum 3. Mai 2022 in der Schweiz. Ziel dieses Besuchs ist es, ihm den Schweizer Föderalismus zu präsentieren. David Eray, Regierungspräsident des Kantons Jura und Leiter der Schweizer Delegation beim Kongress, begleitet Verbeek auf seiner Reise, die auch einen Besuch der Landsgemeinde Glarus beinhaltet. Ein Interview mit ihm:

Porträt von David Eray, Regierungspräsident des Kantons Jura und Leiter der Schweizer Delegation beim Kongress.

David Eray wird den Kongresspräsidenten bis zum 3. Mai auf seiner Tour durch die Schweiz begleiten. © Keystone

Herr Eray, es ist das erste Mal, dass Leendert Verbeek die Schweiz besucht. Was erwarten Sie von diesem Besuch, als Präsident der Kantonsregierung, aber auch als Leiter der Schweizer Delegation?

Im Kongress sprechen wir viel über die Schweiz. Ziel dieses Besuchs ist es, dem Kongresspräsidenten die Besonderheiten und das reibungslose Funktionieren der direkten Demokratie auf regionaler Ebene zu zeigen. Als Präsident der jurassischen Regierung und Leiter der Schweizer Delegation ist es für mich vor allem eine grosse Ehre, diese Institution in der Schweiz zu empfangen.

Auf dem Programm steht ein Besuch der Landsgemeinde in Glarus. Welche (guten) Beispiele für Demokratie soll die Schweiz dem Kongress präsentieren?

Zuerst möchte ich kurz daran erinnern, dass wir wegen der Pandemie in den vergangenen Jahren zwei geplante Besuche verschieben mussten. Damals war die Teilnahme an einer Gemeinderatssitzung einer kleinen Gemeinde vorgesehen. Der diesjährige Besuch fällt mit der Landsgemeinde in Glarus zusammen. Für Leendert Verbeek ist das eine ideale Gelegenheit, einer Versammlung beizuwohnen, an der die gesamte Bevölkerung eines Kantons teilnimmt, um über Vorlagen zu entscheiden, die sie direkt betreffen und die zum Teil von grosser Bedeutung sind. Wir zeigen, dass die Bevölkerung über kantonale Angelegenheiten beraten und abstimmen kann. Die Rednertribüne steht allen Bürgerinnen und Bürgern offen.

Im Jahr 2017 wurde der Schweizer Föderalismus im Monitoringbericht des Kongresses als «besonders positiv» beurteilt. Der Besuch soll nun ein konkreten Einblick vermitteln. Hat eine Landsgemeinde, eine aktive Form des Schweizer Föderalismus, etwas Aufsehenerregendes?

Eine Landsgemeinde ist sicherlich eine eindrückliche Versammlung für einen Vertreter eines anderen europäischen Landes, in dem die direkte Demokratie vielleicht nicht so ausgeprägt ist. Dieser Besuch ist zudem eine Gelegenheit, die Ergebnisse des Monitoringberichts zur Schweiz aus dem Jahr 2017 zu überprüfen. Wir werden mit Leendert Verbeek auch über ein Kernelement unseres demokratischen Systems sprechen, nämlich die Kompetenzaufteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. Diese Frage stellt sich auch in anderen europäischen Ländern: Die Regionen verfügen oftmals nicht über ausreichend Kompetenzen oder über die dafür notwendigen finanziellen Mittel. Der Ansatz der Schweiz ist in diesem Bereich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern klarer und kohärenter.

Was kann man an einer Landsgemeinde oder einer Gemeindeversammlung wichtiges beobachten?

Der Zusammenhalt des Volkes ist in den Versammlungen oder an einer Landsgemeinde sehr stark. Es handelt sich um Demokratie mit menschlicher Dimension. Das erinnert auch daran, wie wichtig menschliche Kontakte in der Gesellschaft sind. Ich persönlich wohne in einem kleinen Dorf im Jura. Bei den Gemeindeversammlungen kann ich beobachten, wie soziale Bindungen zwischen der gesamten Bevölkerung geknüpft werden, auch wenn sie mit bestimmten Vorlagen, die in die Vernehmlassung gegeben wurden, nicht einverstanden sind. Diese Realität ist es wert, beobachtet zu werden.

Dieser Besuch ermöglicht es, uns noch stärker dafür zu sensibilisieren, wie die Demokratie bei uns gefördert werden kann.
David Eray, Regierungspräsident des Kantons Jura und Leiter der Schweizer Delegation beim Kongress.

Es sind auch offizielle Treffen geplant, unter anderem mit dem Berner Stadtpräsidenten Alec von Graffenried. Ist dies ein Beweis dafür, dass die Innenpolitik der Schweiz auch ihre Aussenpolitik beeinflusst?

Zwischen den verschiedenen Ebenen in der Schweiz – Bund, Kantone und Gemeinden – haben wir wichtige Ausgleichs-, Zusammenarbeits- und Koordinationsmechanismen. Dadurch wird verhindert, dass ein Kanton eine eigene Aussenpolitik führt, die jener eines anderen Kantons oder des Bundes zuwiderläuft. Dieser Ansatz geniesst in der Schweiz hohe Zustimmung. Auch dies wäre ein Gesprächsthema.

Wir haben über die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden gesprochen. Könnten Sie uns als Präsident der Kantonsregierung auch erläutern, was der Kongress für Sie und Ihren Kanton bedeutet?

Zunächst einmal ermöglicht der Kongress die Förderung der territorialen Demokratie, die Verbesserung der regionalen und lokalen Gouvernanz sowie die Stärkung der Autonomie der Gebietskörperschaften. Dies geschieht insbesondere durch die Anwendung der in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung enthaltenen Grundsätze.

Zudem verändert die Tätigkeit als Kongressdelegierter auch meine Arbeitsweise. Die Möglichkeit, zu sehen, wie Demokratie anderswo, in anderen Regionen und Ländern, umgesetzt wird, ermöglicht es mir, mich persönlich weiterzuentwickeln. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Gemeinde Linkebeek in Belgien, die wir besucht hatten. Der Besuch hatte uns dazu gebracht, einige demokratische Prinzipien zu hinterfragen, insbesondere die Sprachenpolitik, die vor Ort praktiziert wurde. Diese Fragen betreffen uns im Übrigen genauso. Dieser und andere Besuche ermöglichen es, uns noch stärker dafür zu sensibilisieren, wie die Demokratie bei uns gefördert werden und funktionieren kann. Auch wenn der Schweizer Föderalismus gut funktioniert, kann man immer von anderen lernen.

Sie wurden 2018 zum Kongressdelegierten ernannt. Ist der bevorstehende Besuch dieser Institution in der Schweiz ein Höhepunkt für Sie?

Er ist natürlich für die gesamte Schweizer Delegation ein bedeutendes Ereignis. Wichtig war auch der Besuch des Kongresses in der Schweiz im Jahr 2015. Damals ging es um das Monitoring der Schweizer Demokratie. Neben dem offiziellen Besuch des Kongresspräsidenten erhielten wir auch einen Monitoringbericht. Leendert Verbeek wird Gelegenheit haben, sich mit interessanten Persönlichkeiten auszutauschen. Für mich persönlich wird es natürlich ein Highlight meines europäischen Mandats sein.

Im internationalen Vergleich hat die Schweiz im Bereich Digitalisierung einen gewissen Nachholbedarf.
David Eray, Regierungspräsident des Kantons Jura und Leiter der Schweizer Delegation beim Kongress.

Im Dezember 2021 wurden Sie zum Sprecher für Digitalisierung und künstliche Intelligenz des Kongresses ernannt. Wie kann sich die Schweiz in diesem Bereich in Strassburg einbringen?

Es ist gut, dass die Digitalisierung eine Priorität der aussenpolitischen Strategie des Bundes ist. Ich denke aber auch, dass die Schweiz in diesem Bereich im internationalen Vergleich einen gewissen Nachholbedarf hat. Das Projekt «Digitale Verwaltung» (DVS) von Bund und Kantonen ist begrüssenswert. Der Bundesrat ist dort mit drei, die Kantone sind mit sechs (darunter auch ich) und die Gemeinden mit drei Mitgliedern vertreten.

Die Schweiz verfügt über digitale Kompetenzen, namentlich bei den Programmen für die elektronische Steuererklärung sowie bei den virtuellen Schaltern, die in verschiedenen Kantonen eingerichtet werden. Dank lokalen Unternehmen, die u. a. in der Verschlüsselung von Dokumenten tätig sind, besitzen wir auch ein digitales Know-how im Wirtschaftsbereich. Erwähnenswert sind zudem die Rechenzentren in mehreren Kantonen, die sich mehrheitlich in Gebieten mit geringem Erdbeben- und Überschwemmungsrisiko befinden und die mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Die Schweiz weist also im Bereich der Digitalisierung einige Stärken auf.

Und im Bereich der künstlichen Intelligenz?

Das ist ein anderes Thema. Im Europarat besteht die Sorge, dass die Demokratie von der künstlichen Intelligenz als Geisel genommen werden könnte. Gewisse Risiken wurden erkannt. Die Schweiz und der Europarat können von diesen Diskussionen profitieren. Ich glaube, dass wir in Bezug auf die künstliche Intelligenz noch viel lernen müssen, damit Europa gegenüber anderen Weltregionen eine gewisse Autonomie bewahren kann. Dies wäre auch ein mögliches Thema für den Austausch zwischen dem Kongresspräsidenten und seinen schweizerischen Gesprächspartnern.

Wissenswertes

Der Europarat mit Sitz in Strassburg ist die älteste zwischenstaatliche Organisation Europas. Seine Kernthemen sind der Schutz und die Förderung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Der Kongress der Gemeinden und Regionen ist ein Organ des Europarates. Die weiteren Organe sind das Ministerkomitee, die Parlamentarische Versammlung und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Der Kongress ist ein beratendes Organ und besteht aus 612 gewählten Vertreterinnen und Vertretern der 46 Mitgliedstaaten (306 Delegierte und 306 Stellvertreterinnen und Stellvertreter). Der Kongress wacht über die Umsetzung der Grundsätze der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, organisiert Beobachtungsmissionen für Gemeinde- und Regionalwahlen und berät die anderen Organe zu Fragen der regionalen und kommunalen Politik.

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