Vermisst, gefunden, wieder daheim: Das stärkt die Gesellschaft und stiftet Frieden
Kehren Vermisste heim, entlastet das ihre Familien und stabilisiert die Gesellschaft: eine wichtige Voraussetzung für künftigen Frieden. Zum 150-jährigen Bestehen sichert die Schweiz dem Suchdienst des Roten Kreuzes weiter Unterstützung zu.
In den Räumen der Central Tracing Agency (CTA) in Nikosia herrscht 1974 konzentriertes emsiges Treiben: Es geht um die Suche im Krieg vermisster Personen. © IKRK, Max Vaterlaus
Das Schlachtfeld nach erbittertem Kampf. Die Bauchwunde blutet stark. Der tränengetrübte Blick des blutjungen Sterbenden trifft auf den Unverwundeten. Dieser erbarmt sich, der Schluck Wasser tut gut. Die Kraft reicht noch für eine Bitte; der Tod kommt, Dunant geht. Bei sich hat er eine Adresse, 3, Rue d'Alger, Lyon. Die Adresse der Eltern. Ihr einziger Sohn – freiwillig zog er in den Krieg – kehrt nie mehr heim.
Zusätzlich zu den IKRK-Aufgaben: die Central Tracing Agency (CTA) entsteht
Die Szene auf dem Schlachtfeld in der Nähe von Solferino grub sich tief ins Herz von Henry Dunant ein. Nach circa zehn Jahren ging die Saat auf. Gleich mehrere Suchdienste nahmen in Kriegszeiten ihre Tätigkeit auf. Und zwar im Rahmen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), das bekanntlich ebenfalls vom Genfer Geschäftsmann initiiert wurde. Das IKRK verbesserte einerseits die Pflege und den Schutz von kranken und verletzten Soldaten. Ab 1870 wirkte die internationale Organisation mit Sitz in Genf anderseits auch für Menschen, welche im Krieg ihrer Freiheit beraubt, vertrieben und von ihren Familien getrennt wurden. Die zunächst separat operierenden diversen Agenturen wurden später unter einem Dach zusammengeführt: die Central Tracing Agency (CTA) war geboren.
Interview mit Caroline Douilliez-Sabouba, Leiterin des «Missing Persons Project» des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz
Welche Ziele verfolgt der Zentrale Suchdienst (CTA)?
Die Central Tracing Agency (CTA) ist eine der ältesten Einrichtungen des IKRK, die in den Genfer Konventionen verankert ist. Die CTA wurde 1870 als Basler Agentur gegründet und ist die Drehscheibe des IKRK bezüglich seiner internationalen Aktivitäten in den Bereichen Schutz und Familienzusammenführung, Suche nach und Identifizierung von vermissten Personen, Schutz der Würde von Verstorbenen und Sicherstellung einer Unterstützung für die Familienangehörigen von Vermissten.
Was sind Ihre Aufgaben als Leiterin des «Missing Persons Project» beim Zentralen Suchdienst?
Ich leite dieses Projekt. Es ist ein vierjähriges Vorhaben, das 2018 gestartet wurde, um Familien und Fachleute zusammenzubringen mit dem Ziel, das Problem weltweit noch besser anzugehen.
Welche Projekte führen Sie in Zusammenarbeit mit der Schweiz durch?
Die Schweiz war von Anfang an die wichtigste Geberin des «Missing Persons Project». Sie unterstützt zudem einen Teil des umfassenderen Transformationsprogramms der CTA. Der Suchdienst will seine Grundlagen stärken und neue Instrumente erarbeiten, um den Bedürfnissen von vermissten Personen und ihren Familien noch besser Rechnung zu tragen, auch durch technologische Innovationen. Insbesondere prüfen wir zurzeit, wie wir zu einem führenden internationalen «Mechanismus» werden können in den Bereichen der Speicherung, der Standardisierung, des Zugriffs auf und der Analyse von Daten im Zusammenhang mit der Suche nach vermissten Personen und der Identifizierung von menschlichen Überresten. Die Schweiz engagiert sich hier vor allem im Rahmen einer Machbarkeitsstudie, die 2021 begonnen hat.
Wie unterstützt die Schweiz Ihre Arbeit?
Die Schweiz war eine sehr grosse Hilfe. Nicht nur durch die Finanzierung, die natürlich für die Durchführung des «Missing Persons Project» entscheidend war, sondern auch bei den gemeinsamen Überlegungen zur Umsetzung des Projekts. Die Schweiz hat uns geholfen, Ideen zu testen. Sie hat uns beraten und uns ermutigt, andere Länder und Interessengruppen durch einen geeigneten Ansatz einzubinden. Dank der Schweizer Unterstützung sind wir sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Einzigartiger Beitrag eines Schweizers zum modernen humanitären Handeln
Bundesrat Ignazio Cassis und Staatssekretärin Livia Leu nehmen am Online-Event zum 150. Geburtstag der CTA virtuell beziehungsweise physisch teil. Die Feier spiegelt mit Interviews, Diskussionen und Bildern die vielfältigen Erfahrungen und innovativen Wege des Zentralen Suchdienstes.
Online-Event zum 150. Geburtstag der CTA
Mit der menschlichen Geste von Henry Dunant auf dem Schlachtfeld von Solferino habe dieser «einen einzigartigen Beitrag zum modernen humanitären Handeln» geleistet, führt Bundesrat Cassis im Video-Interview während des Online-Events aus. Was danach mit der Gründung der Basler Agentur, mit den temporären Agenturen für Kriegsgefangene und Zivilisten während der Weltkriege und schliesslich mit dem Zentralen Suchdienst folgte, sei «die logische Konsequenz dieser einfachen menschlichen Geste».
Freiwillige in Genf und in aller Welt engagieren sich
Das ausserordentliche Engagement, die Kreativität und der unermüdliche Einsatz Hunderter Mitarbeiter und Freiwilliger – in Genf und weltweit – machten die CTA zu dem, was sie heute ist: eine erfolgreiche globale Unternehmung.
Ein Strom von Engagierten schloss sich der Agentur an. Karteikarten reihen sich aneinander, sind erstellt, geordnet, abgeheftet. Lang ersehnte Briefe gelangen zu den Familien. Ein bemerkenswertes Beispiel: der «service du soir». Volontärinnen in der ganzen Schweiz arbeiten während des Zweiten Weltkriegs jede Nacht. Ein Dienst am Mitmenschen, der die in der Schweizer Bevölkerung tief verwurzelte Solidarität für Menschen in Krisensituationen spiegle, betont der Schweizer Aussenminister. Zudem hätten Gesellschaften, die sich nicht um vermisste Personen kümmern, Schwierigkeiten, eine friedliche und stabile Zukunft aufzubauen.
Der Suchdienst des Schweizerischen Roten Kreuzes steht allen in der Schweiz wohnhaften Personen offen, die ein Familienmitglied oder eine ihnen nahe stehende Person vermissen.
Die humanitäre Tradition der Schweiz
Der gute Ruf der Schweiz beruht auch auf ihrer humanitären Tradition, die sich am Beispiel der CTA zeigt. «Bei Krisen, in bewaffneten Konflikten und während Katastrophen nimmt unser Land Hilfsaufträge unparteiisch und solidarisch wahr» (Aussenpolitische Strategie 2020–2023). Für die Schweiz stehen die Garantie der Sicherheit, der Würde sowie der Rechte im Zentrum. Sie unterstützt traditionell humanitäre Organisationen oder spezialisierte Organisationen der UNO. Die CTA erfährt weiterhin breite politische, finanzielle und inhaltliche Unterstützung durch die Schweiz, welche durch ihren Status als Depositar der Genfer Konventionen eine zentrale Rolle spielt.