«Entwicklungszusammenarbeit muss flexibel handeln können - mit längerfristigem Horizont»
Ende März hat die Schweizer Botschaft in Nepal dafür gesorgt, dass Reisende aus der Schweiz und anderen europäischen Ländern nach Kathmandu gelangen konnten, um von dort aus nach Europa auszufliegen. Nicht weniger intensiv setzt sich die Schweiz dafür ein, die Folgen von COVID-19 in Nepal zu bekämpfen. Dabei hilft die langjährige Präsenz und die enge Zusammenarbeit der Schweiz in Nepal, sagt die Schweizer Botschafterin in Kathmandu, Elisabeth von Capeller.
Die Schweizer Botschafterin in Nepal, Elisabeth von Capeller, übergibt dem nepalesischen Minister für Gesundheit und Bevölkerung 30'000 COVID-19-Testkits, die aus Singapur eingeflogen wurden. © EDA
Welchen Herausforderungen sieht sich Nepal bei der Bekämpfung von COVID-19 vor allem gegenüber?
Der nepalesische Finanzminister betont immer wieder, «dass COVID-19 nicht nur eine Gesundheits-Krise sondern auch eine soziale und ökonomische Krise ist, die die Institutionen und Systeme trifft. Es ist keine humanitäre Krise und unsere Antworten müssen daher entsprechend sein.» Das heisst vor allem die soziale und ökonomische Krise muss sofort angegangen werden und die bestehenden Institutionen dürfen nicht umgangen werden.
Was heisst das für das Land konkret?
Nepal hat eines der schwächsten Gesundheitssysteme der Welt und kann eigentlich nur versuchen, präventiv die Verbreitung zu stoppen. Für die Behandlung von infizierten Menschen ist das Land nicht genügend ausgerüstet. Es hat zum Beispiel nur etwa 100 Intensivbetten für über 30 Millionen Menschen. Der seit fünf Wochen geltende totale Lockdown als Massnahme, um die Verbreitung gering zu halten, zeigt aber jetzt schon schwerwiegende Folgen und stürzt viele Menschen in die Armut. Zudem warten Millionen von Migranten im Golf, in Indien und Ostasien darauf zurückzukommen. Viele davon sind infiziert und alle müssten zuerst in die Quarantäne, um dann in die Dörfer zu gelangen - ohne Arbeit und Einkommen. Eine unvorstellbare Aufgabe. Die privaten Kapitalüberweisungen (Remittances) machen 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus. Fallen diese aus, so wird es verheerende makroökonomische und soziale Folgen haben.
Können die «Institutionen und Systeme» dies auffangen?
Der noch junge Föderalismus wirkt sich positiv aus. Das ist jetzt schon für die Menschen sichtbar und spürbar. Die Provinzen und die Lokalregierungen leisten fantastische Arbeit, organisieren die Quarantänen, verteilen Nahrung und Sozialhilfe, führen das Tracing durch etc.
Wo kann die Schweiz ansetzen, um hier konkret und rasch zu helfen?
Wir haben früh und sofort reagiert. Einerseits haben wir alle unsere Projekte unmittelbar den neuen Bedürfnissen angepasst. Wir haben zum Beispiel beim Aufbau von Call Centern für die landwirtschaftliche Beratung geholfen und Helplines für Frauen unterstützt, die von Gewalt betroffen sind. Auch für das «Home Schooling» für Lehrlinge oder den Schutz und Nahrungsmittel für Migranten im Golf haben wir uns eingesetzt.
Zudem haben wir im Rahmen unserer Strategie sofort neue Unterstützungen aufgegleist. Diese betrafen zum Beispiel Entsorgungssysteme für medizinische Abfälle und Abwasser in Spitälern, in denen COVID-19-Patienten gepflegt werden, oder die Vorbereitungsarbeiten der Regierung für die Rückkehr von Migranten. Wir haben Menschenrechtsorganisationen unterstützt, die beobachten, ob diskriminierte Menschen auch Hilfe erhalten, und haben uns für finanzielle Unterstützungen für KMU eingesetzt. Zusammen mit den Provinzregierungen entwickeln wir ein Vouchersystem für Bauern, damit sie landwirtschaftliche Hilfe erhalten können. Und dann haben wir auch sofort medizinische Ausrüstungen beschafft: Thermometer, tausende Schutzausrüstungen und auch 30'000 COVID-19-Testkits. Diese haben wir der Zentralregierung und den Provinzen übergeben. Wichtig ist uns, dass wir die existierenden Strukturen und Institutionen stärken und sie nicht ersetzen.
Die Schweiz setzt in Nepal verschiedene Programme um und unterstützt Projekte in Nepal. Hemmen diese nicht die Flexibilität, um auf COVID-19 zu reagieren? Oder machen sie eine wirksame Hilfe sogar erst möglich?
Ich denke, wir müssten weg kommen vom Narrativ «schnell handeln ist humanitäre Hilfe» und «längerfristig handeln Entwicklungszusammenarbeit». Für mich sind auch unsere sofortigen Aktionen - medizinische Ausrüstung und Tests zu kaufen oder die Entsorgung von medizinischen Abfällen in Spitälern aufzubauen - eine systemische Intervention, die aber schnell umgesetzt werden muss. Entwicklungszusammenarbeit muss schnell und flexibel handeln können - mit einem längerfristigen Horizont. Das haben wir immer gemacht. Nepal hat in den letzten Jahrzehnten einen Bürgerkrieg, politische Wechsel, Erdbeben und dann den Systemwechsel zu einem Föderalen Staat hinter sich. Das Land ist also in einem permanenten Wechsel. Und wir haben immer unsere Programme angepasst im Sinne von «take the context a starting point» Das ist für uns ganz normal.
Können Sie Erfahrungen, die Sie bei der Wiederaufbauhilfe nach dem Erdbeben in Nepal gemacht haben, nun auch bei der Bekämpfung von COVID-19 einsetzen?
Ja, es gibt wichtige Erfahrungen, die bei der Bekämpfung der aktuellen Krise helfen. Zum einen hat sich gezeigt, dass nach dem Erdbeben im Jahr 2015 vor allem zu Beginn viele Hilfsinterventionen dort aufgebaut wurden, wo der Zugang einfach war und nicht, wo es am nötigsten gewesen wäre. Dann haben leider einmal mehr die diskriminierten Gruppen eindeutig weniger von der Hilfe profitiert, da viele neue Organisationen den Kontext nicht kannten. Fehlende Absprachen haben zudem zu Doppelspurigkeiten geführt. Die Regierung hat dann aber, und das ist beispielhaft, die Verantwortung für den Wiederaufbau an die Hand genommen und für Standards und Qualität gesorgt. Nepal wird Ende 2020 nach nur fünf Jahren zu fast 90 Prozent des Wiederaufbaus beendet haben. Das ist einmalig! Zudem verfügt das Land heute über Strukturen, dank denen es besser auf künftige Naturkatastrophen reagieren kann. Auch bei der Bekämpfung der Pandemie sind es die nationalen Strukturen, die wir stärken müssen und nicht umgehen dürfen. Bei der Unterstützung mit Sozialleistungen sind heute die lokalen Regierungen und die Entwicklungspartner sensibilisiert, dass sie die diskriminierten Gruppen nicht übergehen dürfen. Trotzdem wird es auch heute wichtig sein, hier immer genau hinzusehen.
Das EDA hat die Rückhol-Aktionen mit gecharterten Flugzeugen weitgehend beendet. Sind noch weitere Schweizer Reisende im Land? Wenn ja: Wie betreut Sie die Botschaft?
Es hat zum einen Schweizerinnen und Schweizer, die hier tätig sind und im Lande bleiben wollen. Mit denen sind wir regelmässig im Kontakt. Dann gibt es Touristen und Touristinnen, die das Land verlassen möchten. Letzte Woche haben wir nochmals Busse organisiert, die über 100 Leute nach Kathmandu gebracht haben. Darunter elf Schweizer Staatsangehörige, die am 2. Mai mit einem französischen Charterflugzeug ausfliegen konnten. Es gibt noch einige konsularische Fälle, für die wir mit der Konsularischen Direktion an der Zentrale in Bern Lösungen suchen müssen.
Sie und die Schweizer Botschaft haben Ende März grosse Anstrengungen unternommen, damit Touristinnen und Touristen aus der Schweiz und anderen Ländern nach Europa ausfliegen können. Wie lief dabei die Zusammenarbeit mit anderen Ländern ab?
Es war ein unglaublicher Kraftakt. Wir konnten rund 90 Schweizerinnen und Schweizer mit Flügen von Deutschland, Frankreich und der Tschechischen Republik ausfliegen. Diese waren im ganzen Land verstreut und wir mussten den Transport mit Bussen und einem Inlandflug organisieren. Das bedeutete: Während des totalen Lockdowns Bewilligungen einzuholen, Behörden zu informieren etc. Die Koordination mit der EU und dann die konkrete Zusammenarbeit mit Deutschland, Tschechien und Frankreich war ausgezeichnet und wir sind ihnen sehr dankbar. Die guten Beziehungen, die wir untereinander vor Ort haben, waren natürlich eine wichtige Voraussetzung. Zum Glück hatte ich noch genügend gute Pralinen und guten Schweizer Wein als Dankeschön.
Engagement der Schweiz in Nepal
Die Schweiz unterstützt in Nepal die demokratische Entwicklung des neuen föderalen Staates. Über die DEZA unterstützt sie die Einrichtung kommunaler Foren für Bürgerberatung und -beteiligung. Zudem unterstützt sie die öffentlich Bediensteten und die gewählten Behördenmitglieder beim Aufbau von Kapazitäten, um die Qualität der Dienstleistungen für die Bevölkerung zu gewährleisten. Sie fördert die Teilhabe insbesondere von Frauen, diskriminierten Gruppen und Arbeitsmigranten, damit diese ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen können. Darüber hinaus engagiert sich die DEZA für die Vertiefung des Dialogs zwischen Behörden und Bevölkerung und für die Verbesserung der Verwaltung der öffentlichen Finanzen.
Die DEZA unterstützt auch Frauen und Männer, insbesondere aus benachteiligten Gruppen, bei der Entwicklung der beruflichen Qualifikationen, mit denen sie einen Arbeitsplatz finden und somit ihr Einkommen steigern können. Zudem ist sie bestrebt, die Einbindung der nepalesischen Bevölkerung in die Politikgestaltung in den Bereichen Landwirtschaft, Berufsbildung und Infrastrukturausbau zu fördern. Gefördert wird auch die Entwicklung beruflicher Qualifikationen über das Modell der Berufslehre, insbesondere bei Jugendlichen.
Mit Hilfe der DEZA wurden funktionierende Verkehrswege und Bewässerungssysteme errichtet, die die Ernährungssicherheit von mehr als einer Million Nepalesen, davon 60 % aus benachteiligten Gruppen und 42 % Frauen, verbessert haben.
Seit 2011 bemüht sich die DEZA gemeinsam mit der Regierung um die Förderung einer sichereren Migration. Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Pfeiler der nepalesischen Wirtschaft. Jährlich wandern rund 400 000 Menschen aus, vor allem in die Golfstaaten. In Nepal erhält jede zweite Familie Geldüberweisungen aus dem Ausland.