Friedensprozess in Kolumbien: Schweiz wird Garantenstaat bei Verhandlungen zwischen Regierung und Rebellen
Im Rahmen ihrer langjährigen Friedenspolitik in Kolumbien hat die Schweiz am 16. Oktober 2023 auf Wunsch der kolumbianischen Regierung und der Rebellengruppe EMC (Estado Mayor Central de las FARC-EP) ein offizielles Mandat als Garantin für die Friedensverhandlungen übernommen. Mehr dazu im Interview mit Botschafter Simon Geissbühler, Leiter der Abteilung Frieden und Menschenrechte (AFM) des EDA.
Eröffnung von Friedensverhandlungen: Camillo González (Verhandlungsführer Regierung), Danilo Rueda (Hochkommissar für Frieden), Andrey Avendaño (Verhandlungsführer EMC FARC-EP) und Sebastián Martínez (EMC FARC-EP) (v.l.n.r.) am 16. Oktober 2023 in Tibú. © EDA
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass die beiden Parteien die Schweiz um Unterstützung bei den Verhandlungen angefragt haben?
Die Anfrage der Parteien ist ein klares Zeichen des Vertrauens in die Schweiz und ihre Friedenspolitik. Dies ist auch auf die langjährige Präsenz vor Ort zurückzuführen. Die Schweiz engagiert sich seit mehr als 20 Jahren friedenspolitisch in Kolumbien und setzte sich auch in weniger verhandlungsoffeneren Zeiten für den Dialog ein. Sie verfügt über ein breit aufgestelltes Kooperationsprogramm – SECO, DEZA und AFM – mit einem Fokus auf Frieden.
Die Schweiz hat die Aushandlung des Friedensabkommens von 2016 mit den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo (FARC-EP) unterstützt und hilft seither bei der Umsetzung dieses Abkommens. Seit November 2022 begleitet sie die Verhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und dem Ejército de Liberación Nacional (ELN) in einer offiziellen Rolle als Begleitstaat zusammen mit Deutschland, Schweden und Spanien. In New York können wir dank unserer Einsitznahme im UNO-Sicherheitsrat ebenfalls positiv Einfluss nehmen.
Unser Engagement wird geschätzt, und die Schweiz geniesst grosses Vertrauen in Kolumbien. Dies wurde auch von Präsident Petro während des Besuches von Bundespräsident Berset in Kolumbien im August 2023 unterstrichen.
Welche Aufgaben hat die Schweiz als Garantenstaat bei den Friedensverhandlungen in Kolumbien?
Zentrale Elemente sind – neben der Präsenz am Verhandlungstisch – die politische und technische Unterstützung der Verhandlungen sowie die Bereitstellung von Guten Diensten in schwierigen Momenten. Mit ihrer Präsenz und einem regelmässigen direkten Austausch mit den Parteien haben die Garantenstaaten einen positiven Einfluss auf die Verhandlungen. Für die Garantenstaaten wird es wichtig sein, den Prozess gemeinsam und koordiniert zu unterstützen. Wichtige Elemente für die Schweiz sind zudem die Einhaltung des humanitären Völkerrechts, die Rechte der Opfer, die Partizipation der Zivilgesellschaft und die Einbindung von Frauen in den Friedensprozess, die Respektierung des Friedensabkommens von 2016 und die Komplementarität der Verhandlungsprozesse im Rahmen der umfassenden Friedenspolitik der kolumbianischen Regierung.
Die Schweiz unterstützt den Friedensprozess in Kolumbien schon seit 20 Jahren. Was wurde bislang erreicht?
Das Friedensabkommen mit den ehemaligen FARC-EP von 2016 ist ein sehr umfassendes und inklusives Friedensabkommen – auch im internationalen und langjährigen Vergleich. Dieses befindet sich in Umsetzung.
Wichtige Fortschritte konnten im Bereich der Opferrechte erzielt werden: Die Wahrheitskommission hat ihren Bericht Mitte 2022 veröffentlicht und Empfehlungen für den Staat erarbeitet. Die Sonderjustiz für den Frieden und die Einheit zur Suche von verschwundenen Personen sind weiterhin aktiv in der Vergangenheitsarbeit.
Mitte 2017 konnte der Prozess der endgültigen Waffenniederlegung der FARC-EP abgeschlossen werden. Damals haben sich 7’000 FARC-Kombattantinnen und Kombattanten und 6'000 Milizionärinnen und Milizionäre diesem Prozess angeschlossen. Die ehemalige Rebellengruppe FARC-EP hat sich mittlerweile in eine politische Partei umgewandelt und viele ehemalige Kombattantinnen und Kombattanten befinden sich im Reintegrationsprozess.
Verhandlungen mit der ELN konnten, nach dem Unterbruch im 2019, im November 2022 wiederaufgenommen werden. Mit dem Waffenstillstand vom August 2023 und der Initiierung eines nationalen Partizipationsmechanismus zur Mitwirkung der Bevölkerung im Friedensprozess konnten bereits wichtige Fortschritte erzielt werden.
Wo sehen Sie die grössten Hürden bis zu einem umfassenden Frieden?
Die Sicherheitslage bleibt eine Herausforderung. In vielen Regionen des Landes kommt es auch nach dem Ende des bewaffneten Konflikts mit den FARC-EP weiterhin zu Gewalt mit schlimmen humanitären Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Ex-Kombattantinnen und –Kombattanten, soziale Führungspersonen wie auch Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger werden regelmässig umgebracht. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens wurden über 400 Ex-Kombattantinnen und -Kombattanten ermordet. Der UNO-Sicherheitsrat nimmt dieses Thema daher regelmässig auf.
Die umfassende Friedenspolitik «Paz Total» der Regierung Petro beruht auf der Erfahrung, dass Friedensprozesse, die sich auf einzelne bewaffnete Gruppen konzentrieren, das Risiko bergen, zur militärischen Stärkung anderer Gruppen beizutragen. Vor diesem Hintergrund möchte die Regierung neben der effektiven Umsetzung des Friedensabkommens von 2016, Verhandlungen mit allen bestehenden bewaffneten Akteuren führen. Die Lancierung von Friedensverhandlungen mit dem «Estado Mayor Central de las FARC-EP (EMC)» und die Unterzeichnung eines Waffenstillstands sind wichtige Schritte.
Parallel mehrere Friedensverhandlungen zu führen und diese Anstrengungen zu koordinieren, ist eine Herausforderung, logistisch, aber auch inhaltlich und politisch. Es wird weitere Rückschläge geben im Friedensprozess. Nichtsdestotrotz ist Kolumbien aktuell weltweit eine der wenigen Erfolgsgeschichten der Friedensförderung und der Konfliktlösung. Es gibt einen klaren politischen Willen und eine positive Dynamik, die verstärkt wird durch die Präsenz der UNO vor Ort und die enge Begleitung durch den UNO-Sicherheitsrat in New York.
Operationell koordiniert auf Schweizer Seite die AFM die Unterstützung des Friedensprozesses. Wie muss man sich das vorstellen? Haben Sie dauerhaft einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin vor Ort? Oder läuft die Unterstützung vor allem über die Botschaft?
Die Gesamtkoordination findet über das von mir einberufene Rapid Action Team in der AFM statt, das auch die Zusammenarbeit zwischen Bogotá und Bern koordiniert. Ende 2022 habe ich zudem einen Sondergesandten eingesetzt, der die Prozesse begleitet und unterstützt zusammen mit Botschafter Eric Mayoraz, unserer Beraterin für menschliche Sicherheit vor Ort und der ganzen Botschaft in Bogotá.
Wo ist die AFM neben Kolumbien derzeit sonst noch in Friedensprozesse involviert?
Wir arbeiten in diversen Friedensprozessen und tragen mit unseren rund zwanzig friedenspolitischen Länderprogrammen u.a. mit eigener Expertise zur Prävention, Entschärfung und Lösung von Gewaltkonflikten bei. Wir nutzen aber auch Opportunitäten und Anfragen für Mediations- und Dialogunterstützung. Wir waren 2023 weiterhin aktiv in der Unterstützung der Umsetzung von Friedensabkommen im Südsudan und in Mosambik. Weiterhin ist die Schweiz in der Dialogunterstützung aktiv, zum Beispiel in Myanmar oder im Abchasien-Kontext. Sie unterstützt zudem den Normalisierungsprozess Kosovo – Serbien.
Ausserdem engagieren wir uns für die Prävention von Konflikten. In der Region der Grossen Seen ist die Schweiz in die Dialogfazilitation mit nichtstaatlichen, bewaffneten Gruppierungen involviert. In anderen Kontexten mussten wir unser Engagement 2023 jedoch grundlegend anpassen, zum Beispiel im Sudan, oder einstellen (Kamerun). 2023 haben wir drei neue Mandate erhalten, die wir zielorientiert und sehr diskret umsetzen.
In der Ukraine lag der Fokus 2023 auf den Bedürfnissen der Menschen nach Sicherheit und Gerechtigkeit. Die AFM fördert einerseits die Dokumentation und Ahndung von Verbrechen durch lokale und multilaterale Organisationen, unter anderem den internationalen Strafgerichtshof. Zudem setzt sie sich für ganzheitliche Wiedergutmachungsmassnahmen wie die Suche und Identifikation Vermisster ein, die alle Konfliktparteien betrifft und deshalb von friedenspolitischem Interesse ist.
Neben direkten Mediationstätigkeiten stärkt die Schweiz mit ihrer Expertise multilaterale und regionale Organisationen. Die UNO-Friedensprozesse für Syrien und Libyen profitierten ebenso davon wie der in über 30 Ländern aktive UNO-Fonds für Friedenskonsolidierung.