Fragen und Antworten zur Neutralität der Schweiz

Der Bundesrat hat am 28. Februar 2022 beschlossen, sich den EU-Sanktionen gegen Russland anzuschliessen. Fragen und Antworten zur Neutralität im Hinblick auf diesen Beschluss.

09.09.2022
Vier Mitglieder des Bundesrates sitzen an einem grossen Pult.

Bundespräsident Ignazio Cassis und drei weitere Bundesratsmitglieder erläutern am 28. Februar 2022 vor den Medien die Entscheidung des Bundesrates zur Verschärfung der Sanktionen gegen Russland. © Keystone

Hat der Bundesrat mit seinem Entscheid vom 28. Februar 2022, die Sanktionen der EU gegen Russland zu übernehmen, die Neutralität der Schweiz aufgegeben?

Nein, keineswegs: An der Neutralität der Schweiz ändert sich auch mit der Übernahme der EU-Sanktionen nichts.

Die Neutralität im engeren Sinne, also das Neutralitätsrecht, befolgt die Schweiz nach wie vor uneingeschränkt. Sie begünstigt keine Kriegspartei militärisch.

Unter der Neutralität im weiteren Sinne, versteht man die Neutralitätspolitik. Sie umfasst alle Massnahmen, die die Schweiz zum Schutz der Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit ihrer Neutralität ergreift. Die Neutralitätspolitik gewährt einen breiten Gestaltungsspielraum, um auf internationale Entwicklungen reagieren zu können. Die militärische Aggression Russlands auf die Ukraine stellt eine schwerwiegende Verletzung elementarer Völkerrechtsnormen dar und ist in der neueren Geschichte Europas einzigartig. Dem hat der Bundesrat im Rahmen seines politischen Gestaltungsspielraums beim Entscheid zur Übernahme der EU-Sanktionen Rechnung getragen.

Welche Fragen gab es im Vorfeld dieser Entscheidung in Bezug auf die Neutralität zu klären?

Die EU-Sanktionspakete mussten auf ihre Vereinbarkeit mit den neutralitätsrechtlichen Pflichten geprüft werden. Diese Vereinbarkeit wurde bejaht. Aus neutralitätspolitischer Sicht musste analysiert werden, ob eine Übernahme der EU-Sanktionen Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität hätte. Als Massstab diente die Schwere der Verletzung von grundlegenden Völkerrechtsnormen durch Russland. Der Bundesrat kam zum Schluss, dass die Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität nicht beeinträchtigt wird. Die Schweiz hatte sich sowohl bilateral wie im multilateralen Rahmen stark für die Verhinderung des Konflikts und für die Instrumente der Diplomatie engagiert.

Muss man die Neutralität aufgrund des Krieges in der Ukraine grundsätzlich neu überdenken?

Neutralität ist keine starre Grösse, sondern ein aussen-, sicherheits- und auch wirtschaftspolitisches Instrument, das der jeweils herrschenden politischen Grosswetterlage angepasst werden muss.  Der Bundesrat hat sein Neutralitätsverständnis auch in der Vergangenheit regelmässig überprüft und angepasst wie mit dem Neutralitätsbericht von 1993. Der Krieg in der Ukraine stellt die bestehende internationale und vor allem europäische Sicherheitsordnung infrage. 

Der Bundesrat hat am 7. September 2022 eine Aussprache zur Neutralität geführt. Er ist der Ansicht, dass die Neutralitätspolitik, wie sie seit dem Neutralitätsbericht vom 29. November 1993 definiert und praktiziert wurde, ihre Gültigkeit behält. Die Entscheide, die der Bundesrat seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts getroffen hat, wie zum Beispiel die Übernahme der Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland, sind mit der Neutralitätspolitik der Schweiz vereinbar. Diese lässt der Regierung einen hinreichend grossen Handlungsspielraum, um auf die Ereignisse in Europa seit dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts zu reagieren.

Es wird gefordert, dass die Schweiz näher mit der Nato zusammenarbeitet oder sogar der Nato beitritt. Ist das mit der Neutralität vereinbar?

Für alle NATO-Staaten gilt zwingend die sogenannte Beistandspflicht. Wird ein Mitglied angegriffen, müssen die anderen Mitgliedstaaten beistehen und zwar auch mit Waffengewalt. Ein Beitritt zur Nato ist aufgrund dieser Beistandspflicht nicht mit der Neutralität vereinbar. Engere Zusammenarbeitsformen mit der Nato und ihre Vereinbarkeit mit der Neutralität können und sollen aber geprüft werden.

Es gibt Forderungen, dass die Schweiz in Zukunft auch Waffenlieferungen an demokratische Staaten zulässt, die angegriffen wurden oder Waffenlieferungen über Drittstaaten erlaubt. Ist das mit der Neutralität vereinbar?

Gemäss geltendem Neutralitätsrecht ist bei Waffenexporten privater Unternehmen das Gleichbehandlungsgebot zu beachten. Ein neutraler Staat kann also nicht Exporte durch private Unternehmen an eine Konfliktpartei verbieten und gleichzeitig an die andere erlauben, auch nicht via Drittstaaten. Ob für Lieferungen an demokratische Staaten Ausnahmen von der Neutralität gelten sollen, könnte Gegenstand dieser politischen Debatte sein.

Neben dem Völkerrecht müsste aber auch die Schweizer Gesetzgebung im Bereich der Exportkontrolle berücksichtigt und nötigenfalls angepasst werden. Die Schweizer Gesetzgebung enthält von der Neutralität unabhängige Kriterien für den Export von Waffenlieferungen, so z.B. die regionale Stabilität im Bestimmungsland oder die Menschenrechtslage. Auch diese Kriterien müssten bei einem Export an demokratische Staaten beachtet werden.

Wie müsste man die Neutralität neu definieren, damit man zB näher mit der Nato zusammenarbeiten oder Waffen in Kriegsgebiete liefern könnte?

Ziel der Neutralität ist die Wahrung der Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz. Die Neutralitätspolitik bietet gewisse Spielräume, wie die Neutralität zu verstehen ist, um dieses Ziel möglichst gut zu erreichen. Das Neutralitätsrecht hingegen ist Teil des Völkerrechts und kann nicht durch die Schweiz allein verändert werden. Würde die Schweiz in Zukunft enger mit der Nato zusammenarbeiten oder Waffen in bestimmte Länder liefern wollen, muss sie prüfen, welchen Spielraum die Neutralität zulässt, ohne dabei das Neutralitätsrecht zu verletzen und die Glaubwürdigkeit zu verlieren, als neutraler Staat wahrgenommen zu werden. Es stünde der Schweiz theoretisch auch frei, auf die Neutralität zu verzichten. Sie hat diese selbstgewählt und ist völkerrechtlich nicht dazu verpflichtet.

Heute liefert die Schweiz Waffen an Saudiarabien will aber keine Waffen in die Ukraine liefern. Ist Saudi-Arabien aber nicht auch eine Kriegspartei im Konflikt mit Jemen. Wie ist das mit der Neutralität vereinbar?

Das Neutralitätsrecht ist auf den Konflikt in Jemen nicht anwendbar, da es kein Krieg zwischen Staaten, sondern ein interner Konflikt ist. Das Neutralitätsrecht enthält nur Rechte und Pflichten, wenn Staaten gegeneinander Krieg führen.

Im Parlament gibt es verschiedene Bestrebungen, die Neutralität neu zu definieren. Es gibt Forderungen, dass das Volk darüber abstimmen soll. Was sagt das EDA zu diesen Bestrebungen?

Das EDA begrüsst das grosse Interesse der Öffentlichkeit an der Schweizer Neutralität. Die Neutralität ist für die Schweiz von grosser Bedeutung. Sie ist eine wichtige Handlungsmaxime der schweizerischen Aussenpolitik und innenpolitisch ein wichtiges Identifikationsmerkmal der Schweiz. Das EDA ist deswegen überzeugt, dass grundlegende Richtungsänderungen im Neutralitätsverständnis der Schweiz eine offene und transparente Diskussion erfordern.

Eine Festlegung des Neutralitätsverständnisses in der Verfassung oder in einem Gesetz wurde in der Schweizer Geschichte schon öfters diskutiert, aber aus guten Gründen immer abgelehnt: Dies würde uns den nötigen Handlungsspielraum wegnehmen, um das Instrument der Neutralität abhängig vom internationalen Umfeld zur Wahrung unserer Interessen einzusetzen.  

Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik

Das Neutralitätsrecht ist in internationalen Verträgen klar definiert (namentlich in den relevanten Haager Abkommen von 1907). Es verpflichtet den neutralen Staat, Konfliktparteien eines zwischenstaatlichen Krieges nicht militärisch zu begünstigen. Hierzu enthält das Neutralitätsrecht spezifische Pflichten namentlich betreffend Kriegsmaterial und die Nutzung des Schweizer Territoriums.

Die Neutralitätspolitik hingegen betrifft keine Rechtspflichten, sondern die Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität in der Staatengemeinschaft. Die Gestaltung der Neutralitätspolitik ist nicht in einem internationalen Abkommen geregelt, sondern liegt im Ermessen der Schweiz und orientiert sich an den konkreten Umständen des Einzelfalles.

Inwiefern ist die Situation heute anders als beim russischen Vorgehen im Jahr 2014?

Bereits 2014 verletzte Russland Völkerrecht. Russland zeigte sich damals bereit, eine politische Lösung für den Konflikt zu finden und es wurden dafür Verhandlungsprozesse definiert (Minsker Abkommen, trilaterale Kontaktgruppe, OSZE). Mit der militärischen Aggression gegen die Ukraine in den vergangenen Wochen hat Russland elementare Völkerrechtsnormen wie das Gewaltverbot in massiver Weise verletzt. In der Zwischenzeit gibt es Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Die noch andauernde militärische Aggression Russlands geht aber geht weit über diejenige von 2014 hinaus.

Was bedeutet der Entscheid des Bundesrates für künftige Konflikte? Wird die Schweiz ab jetzt umgehend die Sanktionen der EU übernehmen?

Die Übernahme von EU Sanktionen wird weiterhin nicht automatisch erfolgen: Der Bundesrat wird von Fall zu Fall entscheiden nach einer umfassenden Interessenabwägung. Dabei berücksichtigt er das Neutralitätsrecht und die Neutralitätspolitik sowie aussenpolitische und aussenwirtschaftliche Aspekte.

Übrigens hat die Schweiz seit den 1990er-Jahren die grosse Mehrheit aller EU-Sanktionen ganz oder teilweise übernommen. Im Bericht des Bundesrates zur Sanktionspraxis 2017 ist festgehalten, dass die Schweiz seit 1998, als es in der Folge des Kosovo-Konflikts zu Sanktionen gegen Jugoslawien kam, grundsätzlich die EU-Sanktionen übernimmt. Sanktionen nur teilweise übernommen oder den Umgehungsansatz gewählt hat die Schweiz seither beim Iran, bei Russland und Nordkorea.

Welchen Einfluss hat der Entscheid auf die Guten Dienste der Schweiz? Wird die Schweiz weiterhin eine Vermittlungsrolle spielen können?

Ob der Entscheid einen Einfluss auf die Guten Dienste haben wird, wird sich zeigen.

Die Guten Dienste im Allgemeinen und die Mediation im Besonderen sind ein wichtiger Teil der Schweizer Aussenpolitik. Die Schweiz wird auch weiterhin dafür zur Verfügung stehen. Die Guten Dienste sind nicht die Raison d’Être der Schweizer Aussenpolitik und sie dürfen nie ein Feigenblatt sein. Die Schweiz vertritt im Rahmen ihrer unabhängigen Aussenpolitik ihre Interessen und Werte, wie sie in der Bundesverfassung verankert sind. Wir stehen für Frieden, Demokratie, Menschenrechte und das Völkerrecht ein. Daran kann es keine Abstriche geben.

Im aktuellen Konfliktfall ist zum jetzigen Zeitpunkt der Handlungsspielraum der Schweiz nicht sehr gross. Wir sehen uns mit einer flächendeckenden militärischen Aggression Russlands auf einen souveränen, demokratischen Staat konfrontiert, einer seit dem 2. Weltkrieg in Europa ungekannten Eskalation. Eine zentrale Rolle der Schweiz bei der Deeskalation und der Konfliktlösung ist unter diesen Umständen wohl nicht realistisch. Aber natürlich prüft die Schweiz, ob in Nischen Beiträge im Bereich der Guten Dienste möglich sind. Das muss aber diskret geschehen, sonst ist es von Vornherein chancenlos.

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