«Der Krieg hat Grenzen, auch im digitalen Raum»
Der Einsatz digitaler Technologien in bewaffneten Konflikten gehört zu den bedeutendsten Entwicklungen unserer Zeit. Welche Risiken und Chancen sind damit verbunden? Sind die vor 75 Jahren verabschiedeten Genfer Konventionen noch auf der Höhe der Zeit? Philippe Stoll, Senior Techplomacy Delegate beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), nimmt Stellung.
Die Online-Plattform des IKRK «Digitale Dilemmas» soll die realen Auswirkungen des Einsatzes digitaler Technologien in bewaffneten Konflikten auf Zivilisten und humanitäre Helfer konkretisieren. © IKRK
Wir befinden uns in einem Keller. Der Boden bebt. In der Ferne ist eine Explosion zu hören. Dann eine Nachricht auf dem Mobiltelefon: «Der Feind ist abgerückt. Sie können sicher nach Hause gehen oder sich dem Konvoi aus der Stadt anschliessen. Start beim Rathaus.» Absender: Zivilschutz. So beginnt eines der Fallbeispiele auf der Online-Plattform Digitale Dilemmas (en) des IKRK, die von Philippe Stoll, Senior Techplomacy Delegate, entwickelt wurde. Beim IKRK beschäftigt sich «Tech-Diplomatie» mit Fragen an der Schnittstelle zwischen humanitärer Hilfe, Diplomatie, Technologie und Wissenschaft. Ziel der Plattform ist es, die realen Auswirkungen des Einsatzes digitaler Technologien in bewaffneten Konflikten auf die Zivilbevölkerung und die humanitären Akteure zu veranschaulichen. «Die Beispiele auf der Plattform basieren auf realen Situationen, die ich selber vor Ort erlebt habe oder die mir von Kolleginnen und Kollegen geschildert wurden», erklärt Philippe Stoll.
Der Einsatz digitaler Technologien in bewaffneten Konflikten durch verschiedene Akteure ist in unseren zunehmend digitalisierten Gesellschaften eine Realität. Doch mit welchen Auswirkungen? Philippe Stoll nennt drei Hauptaspekte. Erstens: Die Art und Weise, wie die Konflikte ausgetragen werden. «Wir beobachten in bewaffneten Konflikten einen zunehmenden Einsatz digitaler Instrumente wie Cyberangriffe, Überwachung und soziale Netzwerke», sagt der IKRK-Delegierte. Zweitens: Die Auswirkungen auf die Arbeit von humanitären Akteuren. Und drittens: Die Nutzung neuer Technologien durch die Betroffenen. Ein Beispiel: «Vertriebene fragen meistens als Erstes nach einem Internetzugang oder einer Möglichkeit zum Aufladen ihres Mobiltelefons, damit sie mit ihren Angehörigen in Kontakt bleiben können.»
Genfer Konventionen auch in Zeiten digitaler Technologien relevant
Philippe Stoll betont: «Der Krieg hat Grenzen, auch im digitalen Raum. Aus unserer Sicht sind die vor 75 Jahren verabschiedeten Genfer Konventionen auch auf Cyber-Operationen in bewaffneten Konflikten anwendbar, genauso wie für andere Waffen, Mittel und Methoden der Kriegsführung. Sie sind daher weiterhin sehr relevant. Als Hüter der Genfer Konventionen muss das IKRK jedoch stets Veränderungen erkennen und sie juristisch deuten, um den Herausforderungen im Zusammenhang mit neuen Formen der Kriegsführung zu begegnen.»
Im Rahmen der 34. Internationalen Konferenz des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds, die vom 28. bis 31. Oktober 2024 in Genf stattfindet, soll eine Resolution zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Desinformation und Cyberangriffen eingebracht werden, ein Thema, über das international debattiert wird. «Diese Resolution soll bekräftigen, dass das humanitäre Völkerrecht auch im Cyberraum anwendbar ist, insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Zivilbevölkerung, medizinischer Dienste und humanitärer Missionen. Sie wäre für uns ein Instrument zur Förderung des Dialogs und der öffentlichen Debatte.»
Ausserdem arbeitet das IKRK an der Einführung eines digitalen Emblems (en). Dieses hätte dieselbe Funktion wie die physischen Embleme Rotes Kreuz, Roter Halbmond und Roter Kristall als anerkannte Zeichen für unparteiische und neutrale Hilfe und Schutz für die Opfer von bewaffneten Konflikten, Naturkatastrophen und anderen Notsituationen. Das digitale Emblem soll signalisieren, dass die damit gekennzeichneten Einrichtungen geschützt sind und nicht angegriffen werden dürfen. Eine Einigung an der Konferenz wäre laut Philippe Stoll ein wichtiges Signal dafür, dass die digitale Welt genauso wichtig ist wie die physische Welt. Die Arbeiten zum digitalen Emblem müssen jedoch weitergehen, insbesondere im Hinblick auf die technische Umsetzung.
Chancen und Risiken
Für den IKRK-Mitarbeiter geht es beim Einsatz digitaler Technologien in bewaffneten Konflikten einerseits um die Chancen, andererseits aber auch um die Risiken und die Lösungen, die man dafür sucht. Zum einen haben digitale Technologien durchaus positive Effekte, indem sie dazu beitragen, die Hilfe schneller und effizienter bereitzustellen. «Sie können den Zugang zu bestimmten Gebieten erleichtern oder uns helfen, bestimmte Situationen besser zu verstehen. Zusammen mit den Eidgenössischen Technischen Hochschulen (en) entwickeln wir zum Beispiel eine Methode zur schnelleren Auswertung von Satellitenbildern», sagt Philippe Stoll.
Zum anderen haben digitale Technologien eine viel komplexere Dimension. Sie werfen Fragen auf und sind mit Risiken behaftet, die in einem Konflikt zusätzlich verschärft werden. So können Online-Informationen durchaus schädlich oder nachteilig wirken, wenn es sich um Desinformation oder Fehlinformation handelt. «Über die heute verfügbaren Kanäle können sehr einfach falsche Informationen verbreitet werden. Die Menschen sind dadurch verletzlicher. Hassreden sind direkt oder indirekt eine Bedrohung für das Leben, die Sicherheit und die Würde der Bevölkerung», erklärt der Experte des IKRK. Falsche Informationen können auch das Vertrauen in die humanitären Akteure untergraben und zu zusätzlichen Spannungen führen. «Es kann zum Beispiel vorkommen, dass der Kommandeur eines Checkpoints Fake News über das IKRK liest und deshalb einen Konvoi nicht durchlässt, weil er denkt, wir seien Spione oder stünden auf der Gehaltsliste einer der beiden Parteien.»
Rechtlicher und technischer Datenschutz
Als weiteres Risiko nennt Philippe Stoll den Einsatz von Waffensystemen, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind. «Sogenannte autonome Waffen haben das Potenzial, ohne menschliches Zutun zu töten. Für das IKRK ist dieses Konzept sowohl aus ethischer als auch aus rechtlicher Sicht inakzeptabel.»
Im Zusammenhang mit digitalen Technologien ist schliesslich auch der Datenschutz ein wesentliches Risiko. «Bei unserer Arbeit erheben wir zwangsläufig Personendaten. Diese Daten müssen wir sowohl aus technischer als auch aus rechtlicher Sicht schützen. Wenn sie in die falschen Hände geraten, können für die gefährdeten Menschen neue Probleme entstehen», betont Philippe Stoll.
Das IKRK als Hüter des humanitären Völkerrechts
Die Arbeit des IKRK beruht auf drei Säulen. Zum einen auf den Genfer Konventionen von 1949, die von allen Staaten ratifiziert wurden, sowie den Zusatzprotokollen. Das IKRK wurde 1863 gegründet. Auf Anregung der Organisation berief der Bundesrat im August 1864 eine Diplomatenkonferenz ein, die zur Unterzeichnung der ersten Genfer Konvention führte. Als Hüter des humanitären Völkerrechts, das auf den Genfer Konventionen beruht, ist das IKRK bestrebt, das menschliche Leid durch die Förderung und Stärkung des Rechts und der universellen humanitären Grundsätze zu lindern.
Die Arbeit des IKRK beruht auch auf den Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung sowie auf den Resolutionen, die an den Internationalen Konferenzen des Roten Kreuzes und Roten Halbmonds verabschiedet werden. Die 34. Konferenz findet im Oktober 2024 in Genf statt. Zudem leiten sieben Grundsätze die humanitären Aktivitäten des IKRK: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität.
Was macht die Schweiz im Bereich der Digitalisierung?
Die Schweiz verfügt über eine Strategie Digitalaussenpolitik, die vom Bundesrat 2020 verabschiedet wurde. Sie beruht auf den folgenden vier Aktionsfeldern: digitale Gouvernanz, Wohlstand und nachhaltige Entwicklung, Cybersicherheit und digitale Selbstbestimmung. Gemeinsam mit seinen Partnern sucht das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) nach innovativen Lösungen im Bereich der KI-Gouvernanz und trägt dazu bei, dass die neuen Technologien möglichst vielen Menschen zugutekommen.
Dieser Ansatz steht im Einklang mit den Schwerpunkten der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027, namentlich dem thematischen Schwerpunkt Demokratie und Gouvernanz. Die Schweiz setzt sich speziell im Bereich Digitalisierung in bewaffneten Konflikten für die volle Anerkennung, Einhaltung und Anwendung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Völkerrechts, im digitalen Raum ein. Dabei ist eine Klärung in Bezug auf die Anwendbarkeit dieser Regeln zentral, aber auch die konkrete Umsetzung auf nationaler Ebene und in Absprache mit anderen Ländern. Die Schweiz ist aufgrund ihrer langen humanitären Tradition gut positioniert, um diese Anliegen auf internationaler Ebene glaubwürdig zu vertreten. Sie arbeitet insbesondere eng mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zusammen, um den Schutz der Zivilbevölkerung im digitalen Raum und im Zusammenhang mit dem Einsatz neuer Technologien in bewaffneten Konflikten zu gewährleisten.